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CONFOEDERATIO HELVETICA
Die Bundesbehörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft

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Reform der Bundesverfassung

Es gilt das gesprochene Wort

Reform der Bundesverfassung

Pressekonferenz vom 26. Juni 1995

Votum

von Bundesrat Arnold Koller

*****

(Anrede)

Jacob Burckhardt sagt in seinen
weltgeschichtlichen Betrachtungen: "Der
Kleinstaat ist vorhanden, damit ein Fleck
auf der Welt sei, wo die grösstmögliche
Quote der Staatsangehörigen Bürger im vollen
Sinne sind".
Dieses staatspolitische Ideal der Schweiz
auch in einem veränderten Umfeld zu
erhalten, ist letztlich das Ziel der
Verfassungsreform, deren Vernehmlassung der
Bundesrat heute eröffnet. Die
Verfassungsreform steht daher unter dem
Leitmotiv: Bewährtes erhalten, Zukunft
gestalten, Schweiz stärken. Grundlage
unseres Reformprojektes  sind der
Parlamentsauftrag aus dem Jahre 1987,
erneuert durch eine Ende 1994 überwiesene
Motion, und die Legislaturziele 91-95, in
welcher der Bundesrat einen
Verfassungsentwurf in Aussicht gestellt hat.

Notwendigkeit der Verfassungsreform

Kommen wir gleich zur vielleicht wichtigsten
Frage: Brauchen wir überhaupt eine
gesamthafte Revision der Bundesverfassung?
Eine Grundwelle im Volk für eine
Verfassungsrevision gibt es, da machen wir
uns keine Illusionen, nicht, und es wird sie
trotz der Ermöglichung einer breiten
Diskussion im Volke auch morgen nicht geben.
Aber es braucht sie auch nicht. Unsere
Bundesverfassung hat sich als Fundament
unseres Bundesstaates grundsätzlich bewährt.
Sie ist infolge ihres Alters und der 136
Änderungen den meisten Bürgerinnen und
Bürgern aber fremd geworden, und - was noch
schwerer wiegt - sie vermag das alltägliche
staatliche Handeln nicht mehr ausreichend zu
lenken. Damit verliert unsere geschriebene
Verfassung immer mehr ihre Funktion als
Grundordnung des Staates. Letztlich droht
uns dadurch eine Erosion der gemeinsamen
Werte. Ziel der vorgelegten
Verfassungsreform ist daher, eine neue,
verständliche Verfassung zu schaffen, mit
der sich unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger
wieder identifizieren können, - und eine in
allen Teilen demokratische legitimierte
Verfassung, die das staatliche Handeln
wieder vermehrt zu steuern vermag.

Im einzelnen sind es sachliche,
demokratische und formale Gründe, welche die
Verfassungsreform nötig machen.

- Erstens sachliche Gründe: Unsere
Verfassung ist 150 Jahre alt. In diesem
würdigen Haus Zum Äussern Stand  ist sie im
Jahre 1848 erwahrt worden. Sie hat, was
nicht erstaunen kann, Lücken und inhaltliche
Mängel. Es ist zweifellos unbefriedigend, um
Beispiele aus der jüngsten Zeit zu nehmen,
dass die geschriebene Verfassung nicht
audrücklich festhält, dass das zwingende
Völkerrecht, das dem Schutz der höchsten
Rechtsgüter wie Leib und Leben dient, eine
materielle Schranke der Verfassungsrevision
ist. Es ist unbefriedigend, dass wir für
wichtige Sachentscheide und bedeutende
Finanzvorlagen kein Referendumsrecht haben
und dass dann - wie das Beispiel der FA-18-
Initiative zeigt - über die Entscheide der
zuständigen Behörde hinweg die Mitbestimmung
des Volkes doch erreicht werden kann. Es ist
unbefriedigend, wenn unsere Verfassung beim
Wechsel einer kleinen Gemeinde - wie im Fall
Vellerat - eine obligatorische
Volksabstimmung mit Volks- und Ständemehr
verlangt. Es ist unbefriedigend, wenn bei
wichtigsten politischen Verpflichtungen, die
wir im Rahmen eines Staatsvertrages eingehen
- wie etwa beim Transitvertrag mit der EU (2
Tunnels, 28 Tonnen-Limite) - keine
Mitsprache des Volkes besteht, dass wir
dafür aber - wie beim Fall der
Rassendiskriminierungskonvention, die
ebenfalls nicht dem Referendum unterstand -
einen Stellvertreterkrieg über einen
Strafgesetzbuchartikel im Rahmen der
Anpassung unserer Landesgesetzgebung führen.
Und es ist unbefriedigend, ja
widersprüchlich, dass ein Beschwerdeführer
nach Strassburg gehen muss, wenn er ein
Bundesgesetz auf seine Vereinbarkeit mit den
verfassungsmässigen Rechte überprüft haben
will, weil für das schweizerische
Bundesgericht auch verfassungs- und
völkerrechtswidrige Bundesgesetze
massgeblich sind. Diese wenigen Beispiele
zeigen, dass die aus dem letzten Jahrhundert
stammende Verfassung im Fundament zwar
gesund ist, jedoch in immer zahlreicheren
Fällen keine befriedigenden Antworten auf
die heutigen Anforderungen an unser
Staatswesen enthält.

- Zweitens sprechen Gründe der
demokratischen Legitimation für eine
Verfassungsreform. Es gibt, vor allem im
Grundrechtsbereich, aber nicht nur dort,
aufgrund der Behördenpraxis, der
Rechtsprechung des Bundesgerichtes oder
aufgrund internationaler Verträge viel
ungeschriebenes Verfassungsrecht, zu dem
sich die Bürgerinnen und Bürger nie haben
äussern können. Ich erwähne nur die EMRK.
Die Verfassungsrevision ist deshalb auch
eine Gelegenheit, "de revoir l'esprit
suisse", also eine Gelegenheit, zum
Verfassungsstaat Schweiz, wie er sich in den
vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat und
wie er heute wirklich existiert,  einmal
gesamthaft JA sagen zu können und damit der
Grundordnung unseres Staates eine neue
demokratische Legitimation zu geben.

- Es gibt drittens die formale Notwendigkeit
der Verfassungsrevision. Unsere
Bundesverfassung ist infolge der 136
Partialrevisionen zu einem  schwer
verständlichen, kaum mehr lesbaren Flickwerk
und zu einem Dickicht von wichtigen und
unwichtigen Vorschriften geworden. Es ist
ein wichtiges Ziel der Verfassungsrevision,
eine vollständige, verständliche und damit
bürgernahe Verfassung in der Sprache unserer
Zeit zu schaffen.

Konzept der Verfassungsreform

Die Verfassungsreform, die wir Ihnen heute
unterbreiten, unterscheidet sich von einer
Totalrevision der Bundesverfassung im
klassischen Sinn. Wohl gibt es Reformbedarf
auf zahlreichen Gebieten des staatlichen
Lebens. Wir können aber heute nicht mehr
alles auf einmal realisieren. Wir haben
deshalb bewusst die Verfassungsreform als
offenen Prozess konzipiert. Die
nachgeführte, neue Verfassung bildet die
Grundlage und das Gefäss für die materiellen
Reformen, die gleichzeitig oder etappenweise
realisiert werden können (Baukastensystem).
Die neu geschriebene, neu systematisierte
und im Geiste und in der Sprache unserer
Zeit geschriebene Verfassung schafft auch
günstige Rahmenbedingungen für die
materiellen Reformen. Durch dieses
etappenweise, aber nicht perspektivenlose
Vorgehen wird keine spätere Reform verbaut,
sondern sie kann eingebaut werden, wenn sie
spruchreif ist. Dies gilt für die
Parlaments-, Regierungs- und
Föderalismusreform, wo ja in je eigenen
Arbeitsgruppen ernsthaft an einer
grundsätzlichen Reform gearbeitet wird. Die
neue Verfassung ist offen für diese und
andere Reformen.

Volksrechte

Politischer Brennpunkt dieser
Verfassungsreform sind  zweifellos die
Volksrechte. Zu den einzelnen
Reformvorschlägen wird sich Prof. Aubert
äussern. Dass das heutige System der
Volksrechte Mängel aufweist, habe ich
bereits erwähnt. Die jüngsten
parlamentarischen Diskussionen über ein
Rückwirkungsverbot für Initiativen, die
Einheit der Materie, die Beachtung des
zwingenden Völkerrechts, die
Unterschriftenzahl, die Lücken und
Widersprüchlichkeiten beim
Staatsvertragsreferendum usw. haben den
Handlungsbedarf klar aufgezeigt.
Einzelkorrekturen in Form von
Partialrevisionen führen indessen, das ist
auch klar geworden, nicht weiter, sondern
enden regelmässig in einer frustrierenden
Sackgasse. Nur eine neue Gesamtsicht und
eine daraus abgeleitete Gesamtreform der
Volksrechte können zu befriedigenden
Lösungen führen. Leitidee unserer Vorschläge
ist, dass künftig noch konsequenter als
bisher alle wichtigen Entscheidungen der
Bundesversammlung den Volksrechten
zugänglich sein sollen. Die Volksrechte sind
ein, wenn nicht das identitätsstiftende
Merkmal unseres Staates, das es unbedingt zu
erhalten gilt. Diese Einsicht und
Überzeugung dürfen indessen nicht zu einer
Versteinerung des heutigen Standes der
Volksrechte führen, denn gerade darin läge
wohl ihre grösste Gefährdung. Die heute
geltenden Volksrechte haben sich in einem
langen historischen Prozess entwickelt und
bedürfen daher, wenn wir sie lebendig
erhalten wollen, auch künftig der Anpassung
an veränderte Umstände. Diese notwendige
Weiterentwicklung der direkten Demokratie
muss vom Willen getragen sein, die
demokratische Substanz zu erhalten, aber
auch die Entscheidungsfähigkeit und
Verlässlichkeit der demokratisch gewählten
Behörden zu wahren. Der Bundesrat hofft
daher, dass gerade über diese für die
Zukunft unseres Landes besonders wichtigen
Vorschläge  eine offene, unvoreingenommene
Diskussion zustande kommt.

Verfassungsreform als Chance

Nach Lassalle sind Verfassungsfragen nicht
in erster Linie Rechtsfragen, sondern
Machtfragen. Verfassungsgebung ist also,
trotz des begrenzten Ansatzes, den wir
gewählt haben, ein eminent politischer
Prozess der Gestaltung des Gemeinwesens. Man
mag daher die Frage nach der Berufung
unserer Zeit für die Verfassungsgebung
aufwerfen. Es fehlt diesbezüglich ja nicht
an klein- und hochmütigen Einwendungen. Der
Bundesrat ist der Meinung, dass wir das
Projekt der Verfassungsreform nach
30jährigen Vorarbeiten nun konkret angehen
müssen. Wir sollten die Augen nicht
verschliessen vor den Problemen, mit denen
wir heute und in Zukunft konfrontiert sind.

Die Verfassungsreform orientiert sich nicht
an einer "Vision der Schweiz" für das
nächste Jahrhundert. Wir wollen konkrete
Schritte realisieren, aber nicht dem
helvetischen Krämergeist verfallen. In
diesem Sinne ist die Verfassungsreform
europaneutral ausgerichtet, orientiert sich
also nicht an einem konkreten
Integrationsschritt, bringt aber eine
generelle Öffnung nach aussen. Wer die
Verfassungdiskussion gegen die
Europadiskussion ausspielen will, der ist
letztlich nicht bereit, die nötigen Reformen
im Innern anzugehen.

Wir sehen in der Verfassungsreform vor allem
auch eine Chance der Selbstfindung für unser
Land: eine Selbstfindung als demokratische
und föderalistische, als freiheitliche und
soziale Schweiz, als selbstbewusste und als
weltoffene Nation. Der Fall der Mauer und
die rasch voranschreitende europäische
Integration haben unser Volk wohl mehr
verunsichert, als uns dies bewusst geworden
ist. Es ist wichtig, dass wir uns besinnen
auf das, was wir sind, was wir wollen und
was uns zusammenhält. Die
Verfassungsdiskussion eröffnet uns die
grosse Chance, uns um die Staatsidee Schweiz
und unsere gemeinsamen Werte neu zu sammeln.

Ein Vorhaben von dieser Grössenordnung ist
immer Risiko und Chance. Wir betrachten
jedoch die Chance der Erneuerung für unser
Land mit Blick auf das nächste Jahrhundert
als bedeutend grösser.