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Bundespräsident Kaspar Villiger zum 1. August 1995

Keywords : Aussprache, Bundespräsident, Kaspar
Villiger, 1. August

(Ti) Bundespräsident Kaspar Villiger zum 1. August 1995

(Ld)

(Tx) Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger

Wer durch die Schweiz fährt, begegnet auf engstem Raum einer einzigartigen
Vielfalt von Sprachen, Kulturen und Landschaftsbildern. Wer in der Geschichte
forscht, erkennt die Verschiedenartigkeit unserer Wurzeln. Dass derart
Verschiedenes zu einem politisch und wirtschaftlich erfolgreichen Staat
zusammenwachsen konnte, ist eigentlich erstaunlich. Denn es gibt nur wenige
Beispiele von Staaten, in denen während so langer Zeit so verschiedene
Kulturen und Sprachgruppen derart erfolgreich zusammenleben konnten. Glückliche
historische Umstände aber auch eigenes Geschick haben dazu beigetragen.
Entscheidend mitverantwortlich sind natürlich unsere Volksrechte und der
ausgeprägte Föderalismus, der den verschiedenen Gruppierungen die Wahrung ihrer
Identität erlaubt. Deshalb werden wir noch immer als Modell für einen
leistungsfähigen Vielvölkerstaat empfunden.

Nun hat unser früher so ausgeprägtes Selbstbewusstsein plötzlich Risse
bekommen. Wir haben das dumpfe Gefühl, dass es um den nationalen Zusammenhalt
nicht mehr so gut bestellt sei, wie auch schon. Die zählebige Arbeitslosigkeit
und die Auslagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland führen zur bangen Frage, ob
der Wirtschaftsstandort Schweiz noch so vital sei, wie wir das gewohnt waren.
Und obwohl wir noch immer als sehr wohlhabendes Land gelten, haben immer mehr
Menschen Sorgen um ihre Existenz. Das Defizit in den Staatskassen belegt zudem,
dass wir mehr staatliche Leistungen konsumieren als wir zu bezahlen bereit sind.

Ist unsere Erfolgsstory plötzlich am Ende?

Ich glaube nicht. Der tatsächliche Zustand der Schweiz ist besser als unsere
gefühlsmässige Befindlichkeit. Mit Schaffenskraft und Innovationsgeist haben
viele Schweizerinnen und Schweizer auf die Rezession reagiert. Wir werden auch
diesmal, wie so häufig in unserer Geschichte, die Kraft aufbringen, nach einer
schwierigen Zeit wieder Tritt zu fassen. Unser politisches System funktioniert,
wenn wir es ständig à jour halten, unsere Wirtschaft wird sich entwickeln, wenn
wir ihr die richtigen Rahmenbedingungen bieten, wir werden uns auch in einer
schwierigen Welt behaupten, wenn wir die neuen Herausforderungen mutig annehmen
und wieder an uns glauben. Wir haben im internationalen Vergleich eine sehr
gute Ausgangslage zur Bewältigung unserer Zukunft.

Etwas aber macht mir Sorgen: Die verschiedenen Landesteile scheinen sich zu
entfremden. Das gegenseitige Interesse schwindet.

Unterschiedliche Abstimmungsergebnisse in den verschiedenen Sprachräumen haben
die bange Frage aufgeworfen, ob ein besonders tiefer Riss durch die
unterschiedlich Beurteilung unserer Zukunft in Europa entstanden sein könnte.
Es nützt nichts, das nur zu beklagen oder es nicht wahrhaben zu wollen.
Vielleicht würde es weiterführen, wenn wir uns gegenseitig bemühten, die
Gründe dafür zu verstehen, miteinander darüber zu reden. Die Westschweiz und
das Tessin haben grössere wirtschaftliche Probleme zu meistern als
ein grosser Teil der Deutschschweiz. Viele Welsche mögen in einer engeren
Beziehung zu Europa einen Lösungsweg sehen. Zudem möchten sie zum Aufbau
eines gemeinsamen demokratischen Eurpas vermehrt Beiträge leisten. Viele
Deutschschweizer mögen befürchten, eine zu starke Bindung an Europa könnte die
direkte Demokratie und den Föderalismus tangieren, welche sie für die Bewahrung
unserer Vielfalt für so wichtig halten.

Kümmern wir uns also wieder vermehrt darum, was die Landsleute in anderen
Landesteilen beschäftigt, suchen wir vermehrt das Gemeinsame und nicht das
Trennende. Ich ermuntere Sie, alle Möglichkeiten zur Förderung unseres inneren
Zusammenhalts neu zu leben, vom Dialog angefangen bis hin zum Welschlandjahr.
Und vielleicht fahren Sie einmal auf Entdeckungsreise in einen anderssprachigen
Landesteil statt in die Karibik. Sie werden feststellen, dass es sich lohnt!

Sicher, wir wollen die sogenannten Gräben zwischen Tessin, Suisse Romande und
Deutschschweiz nicht dramatisieren. Aber es lohnt sich, zum friedlichen
Zusammenleben Sorge zu tragen, es bewusst zu pflegen.
Es ist nicht ein für allemal gesichert. Unsere Vielfalt an Kultur, Sprache und
Landschaft ist eine Erlebniswelt, die uns bereichert. Wenn wir diese Werte
wieder entdecken, ist die Schweiz unendlich viel mehr als nur die Summe
ihrer vier Kulturen.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

Ich hoffe, dass Sie alle einen schönen Bundesfeiertag erleben dürfen, und ich
wünsche Ihnen und Ihren Familien Gottes Segen!