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100-Jahr-Feier der Strafanstalt Witzwil

Es gilt das gesprochene Wort

100-Jahr-Feier der Strafanstalt Witzwil
18.8.1995 in Witzwil
Grussadresse von Bundesrat A. Koller

Sehr geehrter Herr Regierungsrat
Sehr geehrter Herr Direktor
Sehr geehrte Damen und Herren

Ich freue mich ausserordentlich, an der 100-Jahr-Feier der Strafanstalt Witzwil
teilnehmen zu dürfen. Jubiläen dieser Art geben jeweils Anlass, Entwicklungen
nachzuvollziehen, zu danken, den Ist-Zustand kritisch zu hinterfragen und sich
zu überlegen, worauf in Zukunft das Augenmerk zu richten sei.

Lassen Sie mich zuerst der Mehrzahl unter Ihnen meinen besten Dank aussprechen,
für die Arbeit, die Sie als aktive oder ehemalige Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter hier in den Anstalten Witzwil zum Teil während Ihres ganzen
beruflichen Lebens leisten oder geleistet haben. Die Betreuung straffällig
gewordener Menschen erfordert viel Fachkompetenz, Ausdauer und vor allem die
Bereitschaft, dem Einzelnen als Mitmensch zu begegnen. Danken möchte ich aber
auch all jenen unter Ihnen, die sich als politisch Veranwortliche, als Mitglied
der Aufsichtkommission oder als kantonale Beamte und Angestellte für die
Bereiche des Straf- und Massnahmenvollzuges einsetzen. Ohne Ihr Engagement und
Ihren Einsatz wären vielen der Inhaftierten der gute Start in ein deliktfreies
Leben nicht ermöglicht worden.

In den letzten 100 Jahren haben sich der Straf- und Massnahmenvollzug und die
damit zusammenhängenden spezifischen Probleme massgeblich gewandelt. Der Straf-
und Massnahmenvollzug wird weitgehend von der Entwicklung der Kriminalität und
der Kriminalpolitik bestimmt. In der Schweiz ist das Ausmass der Kriminalität
in den letzten 10 Jahren unter Berücksichtigung des Bevölkerungswachstums
insgesamt zwar zurückgegangen. Einzelne Deliktskategorien wie beispielsweise
Gewalt- und Betäubungsmitteldelikte weisen jedoch eine steigende Tendenz auf.
Demzufolge und aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen ist auch die
Insassenstruktur einem Wandel unterworfen. Es befinden sich mehr und mehr
Drogenabhängige und psychisch kranke wie auch gefährliche Insassen im Vollzug.
Der Anteil von Ausländern ist ebenfalls ausserordentlich hoch. Er macht
gesamtschweizerisch fast 50% und beläuft sich in einzelnen Einrichtungen bis
gegen 80 Prozent. Diese Entwicklung der Insassenpolulation lässt die Betreuung
der Insassen schwieriger werden und stellt an das Strafvollzugspersonal erhöhte
Anforderungen. Die Gewährleistung von Sicherheit, die Betreuung und
Resozialisierung der Gefangenen rufen angesichts der veränderten Situation im
Straf- und Massnahmenvollzug vielfach nach neuen Methoden.

Die Anstalten Witzwil haben die Zeichen der Zeit schon früh erkannt und sich
nicht gescheut, neue Wege zu gehen. Sie wurden vor 100 Jahren weltweit zur
ersten offenen, landwirtschaftlich orientierten Strafanstalt ausgebaut. Die
Landwirtschaft gilt heute als wichtiger Bestandteil eines
betreuungsorientierten Strafvollzuges. In den 80-iger Jahren wurden die
Anstalten Witzwil baulich und betrieblich saniert. Gleichzeitig wurde der
Wohngruppenvollzug eingeführt. Seit wenigen Monaten gibt es auch eine
geschlossene Wohngruppe, in der Eingewiesene, die im Normalregime nicht tragbar
sind und deren Einweisung in eine Rückfälligenanstalt erzieherisch nicht
sinnvoll ist, untergebracht werden können. Geprüft wird zur Zeit die Eröffnung
einer Abteilung für ausstiegswillige drogenabhängige Insassen. Witzwil hat mit
der Zeit Schritt gehalten und die jeweils notwendigen Anpassungen vorgenommen.

Die föderalistische Organisation des Straf- und Massnahmenvollzugs lässt Raum
für solche Anpassungen an neue Gegebenheiten. Innovationen im Straf- und
Massnahmenvollzug können vergleichsweise rasch und flexibel an die Hand
genommen werden. Allerdings ist kaum ein System so gut, dass es nicht noch
verbesserungsfähig wäre. Auch beim Bund macht man sich darüber Gedanken:
Im Rahmen der Revision des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches werden
umfassende Ueberlegungen zum geltenden Sanktionensystem angestellt. Diese
betreffen, auch mit Blick auf die Platznotz in gewissen Anstalten, unter
anderem den Ersatz der kurzen Freiheitsstrafen durch alternative
Sanktionsformen, die mögliche bedingte Entlassung nach der Hälfte der
Strafdauer sowie die Verlängerung des bedingten Strafvollzuges über die heute
gültigen 18 Monate hinaus. Denn der bedingte Strafvollzug hat sich bewährt, was
die geringen Rückfallquoten belegen.
Doch nicht nur auf rechtlicher Ebene werden Verbesserungsvorschläge geprüft. Im
Rahmen des Projektes Neuordnung des Finanzausgleiches wird die Aufgaben- und
Finanzierungsentflechtung von Bund und Kantonen wie auch das geltende
Subventionssystem überprüft. Es geht unter anderem darum, die bestehenden
Subventionsmechanismen auf mögliche Effiziensteigerungen hin zu durchforsten.
Im Vordergrund stehen dabei eine Pauschalierung der Bundesbeiträge und eine
rationellere Abwicklung des Planungs- und Bauverfahrens. Darin dürfte ein
erhebliches Sparpotential liegen. Mit einer entsprechenden Neugestaltung könnte
die Eigenverantwortung und der Gestaltungsspielraum der Kantone vergrössert
werden. Eine vollständige Kantonalisierung des Straf- und Massnahmenvollzuges
allerdings ist m.E. kaum denkbar. Es gibt im Straf- und Massnahmenvollzug
gewisse Bereiche, für die auch der Bund eine Verantwortung trägt. So hat die
Schweiz mehrere internationale Uebereinkommen ratifiziert, die enge Bezüge zum
Straf- und Massnahmenvollzug aufweisen. Diese ändern zwar an der
innerstaatlichen Kompetenzverteilung nichts. Gegenüber den Vertragsparteien ist
jedoch der Bund für die Einhaltung und Durchsetzung der Konventionen
verantwortlich. Damit hat er eine Steuerungsfunktion wahrzunehmen und dafür
besorgt zu sein, dass landesweit gewisse Vollzugsstandards durchgesetzt werden,
wie sie von den Konventionen gefordert werden. Deshalb wird der Straf-und
Massnahmenvollzug m.E. auch in Zukunft eine Verbundaufgabe von Bund und
Kantonen bleiben.

Es scheint mir daher ausserordentlich wichtig, dass Bund und Kantone eng
zusammenarbeiten. Der schweizerische Straf- und Massnahmenvollzug sieht sich
immer wieder mit grossen Herausforderungen, z.B. mit finanziellen Engpässen,
Platznot oder mit einer immer internationaleren Klientel, konfrontiert. Um die
dadurch notwendigen Anpassungen möglichst zweckmässig und innert nützlicher
Frist vornehmen zu können, ist somit Flexibilität und Veränderungsbereitschaft
gefordert. Im Kanton Bern scheint mir ein innovativer Geist vorhanden zu sein,
man denke beispielsweise an die Einführung der gemeinnützigen Arbeit, die sich
äusserst positiv und belebend auf die Entwicklung des Straf- und
Massnahmenvollzuges ausgewirkt hat. Ich bin auch stolz darauf, dass der Bund
diese alternative Vollzugsform als Modellversuch finanziell mittragen konnte.
Ich bin überzeugt, dass nicht nur der Kanton Bern, sondern die Kantone
insgesamt mit Unterstützung des Bundes die anstehenden Probleme auch in Zukunft
meistern werden.

Ich wünsche den für den Vollzug Verantwortlichen bei ihrer Arbeit weiterhin
viel Erfolg und den Insassen, wenn sie Witzwil verlassen, einen guten Start für
das Leben in Freiheit.