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CONFOEDERATIO HELVETICA
Die Bundesbehörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft

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Rede von BR Villiger am Ustertag

Keywords : Rede,Villiger,Chef EMD,Ustertag,Uster

(Ti) : Die Schweiz zwischen Veränderung und Beharrung

(Ld) : Ansprache von Bundesrat Kaspar Villiger,
Vorsteher des EMD am USTERTAG 1994, Uster, 2O. November
1994
Es gilt das gesprochene Wort

(Tx) Uster ist für die moderne Schweiz, was Sempach für die
alte Eidgenossenschaft:  ein entscheidender Durchbruch.
Uster ist ein Beleg dafür, dass unser Volk in seiner
Geschichte immer wieder die Kraft zur Erneuerung gefunden
hat, ohne darüber seine historische und politische
Identität zu verlieren. Solche Regenerationskraft brauchen
wir auch heute. An einer Zeitenwende stellt sich immer die
Frage, was als unverbrüchlicher Kern der eigenen Identität
zu bewahren und was grundlegend und womöglich
identitätsstiftend zu erneuern sei. Die Antwort darauf wird
zwangsläufig immer umstritten sein, und sie wird in einem
möglicherweise schmerzhaften Prozess erarbeitet werden
müssen. Lassen Sie mich dazu einige Gedanken entwickeln!

EINLEITUNG

Mir scheint, der Umbruch nach dem Fall der Mauer habe grös
sere Verwerfungen zur Folge gehabt, als man zunächst erwar
tet hatte. Offensichtlich hat das Ende des nuklearen Patts
in den ehemals kommunistisch regierten Ländern eine Reihe
alter und neuer Konfliktursachen deblockiert, mit denen
niemand rechnete. Man hat den Eindruck, das Vorhandensein
eines klar definierten ideologischen und militärischen
Gegners habe auf die westlichen Demokratien
disziplinierender gewirkt, als uns dies während des Kalten
Krieges bewusst war. Eine Art Chaotisierung der Politik ist
heute auch in bestandenen und bewährten Demokratien
feststellbar.   Das Rechts-Links-Schema eignet sich kaum
mehr zur Charakterisierung des politischen Spannungsfeldes.

Klare Fronten zwischen den Parteien sind kaum mehr erkenn
bar. Überall zersplittern sich die politischen Kräfte.
Klassische politische Konkurrenzdemokratien suchen
pragmatisch nach konkordanzähnlichen Zusammenarbeitsformen,
um überhaupt noch problemlösungsfähig zu sein.    Ueberall
schiessen politische Gruppierungen mit extremen und
teilweise unzulässig vereinfachenden Ueberzeugungen aus dem
Boden. Der Fundamentalismus geht um.

Die Menschen sind verunsicherter denn je. Sie haben das
dumpfe und nicht völlig unberechtigte Gefühl, den
Politikern wüchsen viele der grossen und komplexen Probleme
dieses Planeten über den Kopf. Das zwar beängstigende, aber
immerhin stabile Gleichgewicht des atomaren Schreckens
wurde durch eine kaum weniger beängstigende diffuse Unsi
cherheitslage abgelöst, in welcher sich ökologische,
machtpolitische, ethnische, religiöse, mafiose,
wirtschaftliche und mannigfache andere Risikofaktoren zu
einem schwer bewert- und berechenbaren Risikogeflecht
vernetzen.   Innere und äussere Sicherheit fliessen
ineinander über, und man ist nicht so sicher, ob die alten
Instrumente der Sicherheitspolitik der neuen Lage noch
angemessen sind. Die Zweifel wachsen, ob Wachstum und
Fortschritt wirklich weiterführen, ob sie nicht letztlich
die Probleme verschärfen statt lösen. Die Industrie
gesellschaft ist in eine Krise geraten.

Die Schweiz ist Teil dieser Welt. Sie kann sich diesen
Entwicklungen nicht entziehen.   Verunsicherung, politische
Unrast und Nervosität charakterisieren auch unser
politisches Leben.   Das Segment der Unzufriedenen ist zum
umkämpften politischen Markt geworden. Es gibt keine
eindeutige politische Grenze mehr zwischen links und
rechts, sondern zahllose Bruchlinien verlaufen quer durch
das Parteiengefüge, sei es in der Drogen-, Asyl-, Europa
oder Umweltpolitik.    Das Parteiensystem gerät in
Bewegung. Der Wähleranteil der Bundesratsparteien nimmt
seit Jahren ab. Neue politische Bewegungen bilden sich, die
sich häufig auf spezifische Themen spezialisieren und
häufig die komplexe Wirklichkeit auf wenige einfache und
populistische Scheinwahrheiten reduzieren. Sie missbrauchen
das Bedürfnis vieler desorientierter und verun sicherter
Menschen nach neuer Sicherheit und nach neuen Gewissheiten.
Unser Volk zerfällt auf weite Strecken in
Interessengruppen, die sich ohne Rücksicht auf das Gemein
wohl heftige Verteilkämpfe liefern. Polarisierung statt
Konsens heisst die Devise, und durch Medien, für deren
Verhalten mehr und mehr Auflagezahlen und Zuschauerquoten
massgeblich sind, werden alle diese divergierenden
Strömungen verstärkt. Alte Autoritäten werden demontiert,
Bin dungen in Familie, Kirche und Gesellschaft verlieren an
Kohäsionskraft.

Die Frage stellt sich, ob diese Bewegung, diese Unrast,
diese Instabilität etwas sind, womit man auf Dauer leben
muss, oder ob sie Umbruchsymptome oder gar eine Art
Vorboten neuer Stabilitäten auf neuer politischer Basis
sind. Es erstaunt nicht, dass in solch verunsicherter Zeit
auch die Frage auftaucht, ob unsere Institutionen modernen
Ansprüchen noch genügten, die Frage also, ob alles besser
würde, wenn wir unser politisches System mutig verändern
würden.

Ich will den Versuch wagen, solche und andere Fragen in
Form von sieben Thesen anzugehen.   Das ist nicht ohne
Risiko, ich weiss es.

l. Alle Industrieländer haben ähnliche Probleme. Die
   Schweiz ist kein Sonderfall.

2. Die innere Befindlichkeit der Schweiz ist schlechter als
ihr realer Zustand.

3. Unsere Institutionen stossen an Grenzen, aber überlebt
     sind sie nicht.

4. Es gibt zur Zeit zur Konkordanz keine reale Alternative.

5. Der Bundesrat als Kollegialbehörde muss mehr sein als
die Summe von sieben Partei-       und
Interessenvertretern.

6. Das Regierungssystem mag schlecht sein. Aber es gibt zur
    Zeit kein besseres.

7. Europa ist für die Schweiz ein Dilemma. Der Weg aus
   einem Dilemma führt nie über Schuldzuweisungen und
   Konfrontation, sondern nur über den Dialog.

l. These: Alle Industrieländer haben ähnliche Probleme. Die
               Schweiz ist kein Sonderfall.

Wir sind Weltmeister in der Selbstkritik geworden. Der Um
bruch nach 1989, vor allem aber die Tatsache und das Tempo
der europäischen Integration haben uns in einen gewaltigen
Strudel von Selbstzweifeln gestürzt. In vierzig Jahren
Wachstum und Hyperstabilität haben wir verlernt, mit der
historischen Normalität von Unsicherheit, Instabilität und
Risiken zu leben. Deshalb neigen wir wohl dazu, unsere
eigenen Probleme im Vergleich zu den Problemen anderer zu
überschätzen.    Politische Unrast ist das Kennzeichen fast
aller Demokratien. Wer regiert, verliert in den Wahlen, die
Parteienlandschaften zersplittern, grosse Koalitionen
werden da und dort nötig, der amerikanische Präsident hat
ein von den Republikanern dominiertes Parlament gegenüber,
der deutsche Kanzler einen sozialistisch dominierten
Bundesrat. Man kann es drehen und wenden wie man will: die
Problemlage unseres Landes unterscheidet sich nicht
signifikant von derjenigen vergleichbarer Länder.

    2. These: Die innere Befindlichkeit der Schweiz ist
            schlechter als  ihr realer Zustand.

Unsere subjektive Befindlichkeit ist schlechter als unser
objektiver Zustand. Wir scheinen eine seltsame Lust am
Scheitern zu entwickeln, statt dass wir uns auf unsere
Stärken besinnen und die Zukunft zuversichtlich anpacken.
Wo ich hinhöre, vernehme ich nur Gejammer: Ueber die
Staatsquote, über das Bundesdefizit, über die hohen
Arbeitskosten, über die Unfähigkeit zu Reformen, über den
Zerfall des Leistungswillens, über den Verlust des
Gemeinsinns, über die Führungsschwäche des Bundesrates etc.
Was Wunder, wenn man das im Ausland zur Kenntnis zu nehmen
beginnt und den Glauben an unser Land verliert. Wer soll
noch an die Schweiz glauben, wenn sie es selbst nicht mehr
tut!

Es wäre nun umgekehrt falsch, Schwachstellen zu ignorieren
und in unreflektiertem Eigenlob zu machen. Der Abstand zu
andern Ländern hat sich in der Tat verringert. Wir haben da
und dort nachgelassen, andere haben aufgeholt, sind
demokratischer, liberaler und stabiler geworden.    Aber
nach wie vor haben wir Trümpfe: Unsere Staatsquote und
unsere Steuerquote sind noch immer tiefer als anderswo,
Arbeitslosen- und Inflationsrate sind im Vergleich tief,
unser Volk ist nach wie vor solide, arbeitsam und
qualitätsbewusst, unser Bildungssystem ist leistungsfähig,
die Infrastruktur ist gut, die Rechtssicherheit hoch,  die
Verwaltung zuverlässig, der Sozialstaat leistungsfähig,
aber noch nicht so überreguliert wie anderswo.   Die
wirtschaftlichen Standortbedingungen wurden in einigen
Bereichen verbessert: zum Beispiel  Abschaffung von
Stempelsteuern, Vereinbarung mit der EU über
Ursprungsregeln, Einführung der Mehrwertsteuer,
marktwirtschaftliche Neuorientierung der Landwirtschaft,
Durchbruch bei der Schaffung von Fachhochschulen.

Weitere Verbesserungen sind in der politischen Pipeline,
wie etwa das neue GATT, die Teilprivatisierung der PTT, das
Revitalisierungspaket, die Entlastung des Stempels auf
Risikokapital oder die Milderung der steuerlichen
Doppelbelastung der Aktiengesellschaft. Bei den Bundesfi
nanzen wäre das Licht am Ende des Tunnels sichtbar, wenn
Parlament und Volk den Mut fänden, die wirtschaftlich ver
träglichen sowie  verkehrspolitisch und ökologisch
sinnvollen Treibstoffzollerhöhungen zu beschliessen.

Ich habe in letzter Zeit soviel  Kritik an allem und jedem
hören müssen, dass ich gerne einmal auch einigen Kritikern
den Spiegel vorhalten möchte. Die Wirtschaft hat am
lautesten nach Sparmassnahmen gerufen. Konkrete, umsetzbare
Vorschläge habe ich nur wenige gehört. Sehr viel konkreter
waren die Forderungen nach Arbeitsprogrammen im Baugewerbe,
Mehrausgaben für die Euroforschung oder Ausweitung der
Exportrisikogarantie. Die laute Klage über das überhöhte
Lohnniveau verstehe ich wohl, nur: unsere Lohnnebenkosten
sind im internationalen Vergleich tief, und die Löhne
selber werden von der Wirtschaft im freien Wettbewerb
festgelegt. Die grössten Bremser bei der Revitalisierung
stammen aus kartellfreundlichen Kreisen der Wirtschaft
selber. Jeder lobt den freien Markt, aber wehe, wenn er
wirklich kommt!

Aehnliche Widersprüche sind bei Exponenten der Politik
feststellbar. Der Ruf nach einer mutigen und tiefgreifenden
Regierungsreform erschallt seit Jahren unverändert laut,
und die Kritik am bundesrätlichen Vorschlag war schrill.
Der Berg habe eine Maus geboren, der Bundesrat sei weder
innovativ noch reformwillig, man müsse ihm endlich Beine
machen. Und jetzt plötzlich höre ich, man müsse selbst die
bundesrätliche Reform entlasten und nur den politisch
anscheinend weniger umstrittenen strukturellen Teil
vorantreiben.

Aehnliches begab sich in der Finanzpolitik. Mutige
Spareinschnitte werden da gefordert, unter Einbezug des
rasant wachsenden und grössten Bundesausgabenbereichs, der
sozialen Wohlfahrt.    Kaum liegt mit der Abschaffung des
Mischindexes ein durchaus vertretbarer Vorschlag vor,
schlägt sich ein grosser Teil der lautesten Sparforderer
klammheimlich in die Büsche.

Wer ständig die Glaubwürdigkeit der Politik und ihrer
Führung kritisiert, sollte sich hin und wieder auch die
Frage der eigenen Glaubwürdigkeit stellen.

Ich behaupte, dass es diesem Lande im Grunde nicht schlecht
geht. Die Ausgangslage zur Bewältigung der Zukunft ist gut.
Ein grosser Teil der Wirtschaft hat während der Rezession
strukturelle Probleme bereinigt. Statt über alles und jedes
zu schimpfen, sollten wir jetzt die Aermel hochkrempeln und
zupacken. Statt nur darüber nachzudenken, was andere oder
der Staat noch für uns tun könnten, sollten wir das
anpacken, was wir selber tun können.

Natürlich ist auch die Politik gefordert. Die
Revitalisierung muss zügig und ohne Abstriche durchgezogen
werden. Das lebenswichtige GATT muss durchgesetzt werden.
Das Leitbild des umfassenden Leistungsstaates muss entsorgt
werden, denn weder erfüllt er die in ihn gesetzten
Erwartungen, noch ist er finanzierbar. In unserem
Verhältnis zu Europa sind signifikante Fortschritte zu
erzielen. Der Sozialstaat ist nicht auszudehnen, sondern
langfristig zu sichern.   Unsere in vierzig Jahren
gewachsene Besitzstandmentalität ist zu durchbrechen, die
Energie auf die Schaffung neuer statt die Umverteilung
vorhandener Werte zu richten. Wir müssen wieder wagen zu
wagen. Und wir müssen wieder an uns glauben, zum aufrechten
Gang zurückfinden!

  3. These: Unsere Institutionen stossen an Grenzen, aber
                 überlebt sind sie nicht.

Unsere Institutionen sind umstritten wie nie zuvor. Das
erstaunt nicht. Sie stammen aus dem letzten Jahrhundert und
blieben in ihren Grundzügen bis heute unverändert. In
dieser Zeit hat sich die Welt grundlegend verändert, und
das Tempo der Veränderungen hat sich dramatisch verschärft.
Es stellt sich in der Tat die Frage, ob ein so träges
System wie unsere direkte Demokratie, kombiniert mit
Föderalismus, Zweikammersystem, Zauberformel und
Konkordanz, eine genügend rasche Anpassung an neue Umstände
noch gewährleisten kann, ob es überhaupt noch führbar ist.

Zuzugeben ist, dass das System an Grenzen stösst. Der
ständige Zeitdruck, dem die Vielzahl aufgestauter wichtiger
Vorlagen unterworfen ist, belegt es. Nun gilt es
allerdings, vier Dinge zu bedenken:

Erstens ist unser auf direkter Demokratie beruhendes System
nur über die direkte Demokratie zu verändern. Ich glaube
nicht, dass sich das Volk seine Rechte beschneiden lassen
wird. Deshalb sind möglichen Reformen enge Grenzen gesetzt.

Zweitens sind viele Probleme von der Sache her und nicht
wegen der Institutionen schwer zu lösen.    Die Forderung
nach neuen Institutionen ist häufig ein
Stellvertreterkrieg. Viele von denen, die keine
Sachlösungen anzubieten haben, fordern gerne neue
Institutionen.

Drittens darf man nicht den Institutionen zur Last legen,
was oft menschlicher Unzulänglichkeit begründet ist. Sonst
wäre ja nicht denkbar, dass hierzulande viele einen starken
Präsidenten wie in Amerika wünschen, während umgekehrt in
Amerika das dortige System kaum weniger umstritten ist.

Und viertens sind Effizienz und rasche
Entscheidungsfähigkeit nur ein Teil der Erfordernisse an
ein Regierungssystem. Ein Staat ist eben kein Unternehmen
und eine Regierung keine Konzernleitung.   Ein Staat ist
ein sozialer Zwangsorganismus, in dem Werte wie
Identifikation, Integration oder Geborgenheit ebensowichtig
sind wie Effizienz. Deshalb ist bei einer Veränderung der
Institutionen nicht nur zu fragen, was damit besser wird,
sondern auch, was damit gefährdet oder gar zerstört werden
könnte.

Die Trägheit unseres Systems ist der politische Preis, den
wir für seine Integrationskraft bezahlen.   Es ist wohl
kein Zufall, dass wir einer der ganz wenigen wirklich
erfolgreichen Vielvölkerstaaten sind. Das hat viel mit
unserer politischen Kultur zu tun. Sie beruht auf
politischen Mechanismen, welche Minderheiten schützen,
ihnen zahllose Möglichkeiten der Gestaltung des eigenen
Umfeldes bieten und welche dem Volk maximale Mitgestaltungs
und Mitentscheidungsmöglichkeiten bieten. Der Föderalismus
bändigt die Staatsmacht durch Aufteilung .
Er erlaubt den kleineren Gemeinschaften, für ihre
politischen Bedürfnisse Masslösungen zu treffen.   Das Mi
lizsystem eröffnet zahllose aktive Möglichkeiten der Mitge
staltung des Gemeinwesens.   Die direkte Demokratie gibt
dem Volk die letzte Entscheidungsgewalt, bindet es in die
politische Verantwortung ein. Die Volksrechte haben nicht
nur Entscheidfunktion, sondern auch Brems- und
Impulsfunktion, aber auch eine wichtige politische
Ventilwirkung.

Wir alle kennen die Einwände gegen die demokratischen Er
rungenschaften. Das Volk sei bei schwierigen Vorlagen
überfordert, die Miliz sei den neuen politischen
Herausforderungen nicht mehr gewachsen, das System sei viel
zu langsam und lasse mutige Lösungen gar nicht mehr zu. Mit
dem Referendum könnten die organisierten Besitzstände das
Gesamtsystem reformunfähig machen, wie überhaupt die
direkte Demokratie zum Instrument der systematischen
Obstruktion degeneriert sei. Das Ständemehr habe seine
ursprüngliche Berechtigung verloren, blockiere jeden
Fortschritt und bedrohe nun sogar gewisse Minderheiten, wie
etwa die Welschen, statt dass es sie schütze.

Solche Einwände sind ernst zu nehmen. Nur sind sie eben
sowenig beweisbar wie das Gegenteil.   Es gibt keinerlei
Beleg für die These, Regierungs- und Parlamentsentscheide
wären ohne Referendum qualitativ besser. Die Langsamkeit
eines Systems kann auch überstürzte Fehler vermeiden
helfen, und der dauernde Rechtfertigungszwang, dem die
Politiker durch die Referendumsmöglichkeit unterliegen,
verbessert tendenziell die Qualität politischer Entscheide.
Nach meiner Ueberzeugung wären Staats- und Steuerquote in
diesem Land erheblich höher, wenn nicht die direkte
Demokratie die Versuchung der Politiker immer wieder
dämpfen würde.

Ich fürchte, dass unbedachte Eingriffe in unser
institutionelles Gefüge in unserer verletzlichen und
zersplitterten Willensnation zu gefährlichen Instabilitäten
führen könnten. Deshalb ist wohl zu bedenken, was man auf
der einen Seite opfern müsste, um auf der andern Seite
etwas Neues zu erreichen. Und stets ist das System als
ganzes zu betrachten. Man kann nicht allzuviel an einzelnen
Elementen herumdoktern. So ist es undenkbar, ein
parlamentarisches Konkurrenzsystem einzuführen, ohne
gleichzeitig die direkte Demokratie krass zu beschneiden,
weil sonst die Opposition zu mächtig würde.

Ich will damit nicht sagen, dass unser System nicht immer
wieder der Anpassung bedürfe.   Die konkrete Ausgestaltung
der direkten Demokratie darf so wenig tabu sein, wie die
Ausgestaltung der Regierung.  So ist die Frage nach der
Höhe der Hürden für die Ergreifung der direktdemokratischen
Instrumente, nach der Zahl der erforderlichen
Unterschriften oder der Art ihrer Sammlung legitim, die
Frage auch nach der Gültigkeit von Initiativen, welche
abschliessende Entscheide der von der Verfassung
vorgesehenen Organe umstürzen wollen. Und die vom Bundesrat
vorgeschlagene Regierungsreform wäre eine grosse Chance,
wenn ihre Möglichkeiten vom Bundesrat dann auch mutig
ausgeschöpft würden.

 Aber der Nachweis, unser System führe zu schlechteren
Ergebnissen als dasjenige anderer Demokratien, wurde bisher
nicht erbracht. Wenn ich davon ausgehe, wie schlecht in
unserer vielgestaltigen Gesellschaft die Voraussetzungen
für eine stabile Demokratie im Grunde sind, scheint mir
eher das Gegenteil zuzutreffen.

Im übrigen scheint mir die Diskussion um eine signifikante
Beschneidung der direkten Demokratie müssig. Unser Volk
wird sich keines seiner Rechte nehmen lassen. Und es hat
recht.

   4. These: Es gibt zur Zeit zur Konkordanz keine reale
                        Alternative

Unter Konkordanz verstehe ich den Einbezug eines Grossteils
der politisch einflussreichen Kräfte in die
Regierungsverantwortung.   Ihr Spiegelbild ist die
Zauberformel, welche Vertreter dieser Kräfte einigermassen
proportional mit der Regierung betraut, gegenwärtig im
Verhältnis 2:2 : 2:1.

Das wird oft mit dem Kollegialsystem verwechselt oder
gleichgesetzt. Das ist falsch. Konkordanz wäre auch ohne
Kollegialsystem denkbar, wie das Kollegialsystem ohne
Konkordanz möglich ist.

Im Kollegialsystem befinden alle Bundesräte
gleichberechtigt über die Vorlagen aller Departemente. Sie
entscheiden nach Möglichkeit im Konsens, aber sie können
auch durch Mehrheit entscheiden, wobei dann die
Unterlegenen den Enttscheid mittragen müssen.

Die Konkordanz hat sich als fast notwendige Folge des
Initiativ- und Referendumsrechts entwickelt. Immer, wenn
in unserer Geschichte neue Kräfte auf Dauer
referendumsfähig wurden, bezog man sie in die
Regierungsverantwortung mit ein. Denn eine starke
parlamentarische Opposition könnte mit dem Instrument des
Referendums jede Regierungstätigkeit praktisch blockieren.
Und jede  verlorene Abstimmung müsste die Frage der
Legitimation der Regierung aufwerfen. Unsere politische
Stabilität, ein wichtiger Standortfaktor, würde gefährdet.
Solange wir das unbegrenzte Referendumsrecht haben, und
dessen Abschaffung ist wohl nicht zu erwarten, werden wir
realistischerweise um die Konkordanz nicht herumkommen.
Unter diesem Gesichtswinkel hat die "Zauberformel" mit
"Zauber" wenig zu tun. Es ist eher eine pragmatische
Arbeitsformel, deren Repräsentanten sich immer wieder neu
zu konsensfähigen Lösungsvorschlägen durchringen müssen.
Und es ist selbstverständlich, dass sich die politischen
Spannungen in einer Zeit der politischen Unrast
notgedrungen in einer Konkordanzregierung niederschlagen.
Wer das kritisiert, erwartet Unmögliches vom Bundesrat.
Ich bin aus den geschilderten Gründen der Meinung, dass
eine signifikante Verbesserung der Regierungstätigkeit bei
einer anderen parteipolitischen Zusammensetzung nicht zu
erwarten ist.

Eine eigentliche Rechtsregierung ohne CVP würde zur Zeit
selbst dann keine Mehrheit erreichen, wenn sie sich im
Parlament auch auf rechtspopulistische Splitterparteien
abstützen würde.   Wenn man bedenkt, dass auch eine solche
"Koalition" in wichtigen Politikbereichen, etwa der Drogen
oder Europapolitik, völlig heterogen sein würde, sieht man,
dass das keine homogene Regierungspolitik garantierte. Das
Volk würde gespalten in eine einigermassen regierungstreue
Rechte und eine ebenso bedeutende antigouvernementale
Linke, die ihre Interessen nicht mehr vertreten fühlte. Die
Rechtskoalition  stünde einer überstarken Opposition
gegenüber, welche über Referendum und Strasse die
Regierungspolitik sogar dann blockieren könnte, wenn im
Parlament ein Entscheid zustande käme. Die Polarisierung
des Landes würde dramatisch zunehmen. Aehnlich, aber mit
umgekehrten Vorzeichen, wären die Folgen einer mitte-links-
grünen Koalition.

Viele aus dem bürgerlichen Lager glauben schliesslich, eine
Mitte-rechts-Regierung ohne Sozialdemokraten würde eine
führungsstärkere, homogenere und bürgerlichere Regierung
zulassen. Ich bin da nicht so sicher, obwohl sie sich rein
rechnerisch zur Zeit auf eine parlamentarische Mehrheit
abstützen könnte. Erstens würde auch hier die Polarisierung
des Landes zunehmen, würde die Opposition im Verbund mit
den Volksrechten mächtig, wäre die Regierung in wichtigen
Politikbereichen alles andere als homogen. Und zweitens
müsste eine solche Regierung aus referendumspolitischen
Gründen immer wieder Konzessionen machen, müsste beweisen,
wie sozial sie ist, so dass der gewünschte klar bürgerliche
Kurs keineswegs gesichert wäre, ganz abgesehen von der
grossen politischen Spannweite auch innerhalb von CVP und
FDP. Aus alledem ergibt sich, dass wir wohl letztlich zur
Konkordanz verurteilt sind.   Sie ist die bewährte Methode,
sich in einer komplexen Problemlandschaft einigermassen
passabel durch eine zersplitterte politische Wirklichkeit
zu wursteln. Wir haben Erfahrung mit dieser Methode.
Andere tasten sich erst an sie heran.

Die Konkordanz hat aber auch einen tieferen Sinn. Die
Beteiligung aller massgeblichen Kräfte wirkt integrierend,
ermöglicht es breiten Schichten, ihre Interessen in der
Regierung mitberücksichtigt zu wissen, sich vertreten zu
fühlen, sich mit ihr immer wieder zu identifizieren.

Trotz wechselnder Autorität des Bundesrates in der Ge
schichte galt er doch immer als integrierendes Organ. Ob
wohl seine Bewertung in Umfragen schlechter geworden ist,
geniesst er noch immer mehr Zustimmung als das Parlament.
Damit komme ich zur 5. These:

5. These: Der Bundesrat als Kollegialbehörde muss mehr sein
als die Summe von sieben Parteien und Interessenvertretern.

Ich will Fehler bundesrätlichen Handelns nicht beschönigen.
Aber gestatten Sie mir trotzdem, eine differenzierte Bewer
tung der trommelfeuerartigen Kritik am Bundesrat vorzu
nehmen.

Die Leistungsfähigkeit von Regierung und Verwaltung im Voll
zug ist im grossen Ganzen anerkannt. Die Kritik zielt auf
Inhalte der Politik, auf die angebliche Führungsschwäche
der Regierung. Neue Inhalte, meint man, müssten
entschlossener erarbeitet und deren Umsetzung mutiger
beschlossen werden. Wenn nun allerdings Einigkeit darüber
bestünde, welche Inhalte vorzuschlagen seien, wäre die Lage
einfach.   Die Ansätze der Kritik stehen aber teilweise in
krassem Widerspruch zueinander, und wenn der Bundesrat
Inhalte vorschlägt, die nicht ganz genau den eigenen
Vorstellungen entsprechen, wird er vehement angeschossen.
Führung ja, aber doch nicht ausgerechnet so!   Der einzige
gemeinsame Nenner ist dann nur noch die Kritik an
Bundesrat, die sozusagen zur Ersatzhandlung für die direkte
politische Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner
wird.   Damit kann auch der Nachweis der Mehrheitsfähigkeit
der eigenen politischen Rezepte umgangen werden.

Man mag dem Bundesrat zu Recht vorgeworfen haben, er sei
mit internen Differenzen nicht immer nur glücklich umge
gangen.   Aber Kritik an der Tatsache der Differenzen an
sich geht fehl.   Die Haltung der Mitglieder einer
Konkordanzregierung muss die widersprüchlichen Strömungen
im Volk widerspiegeln.   Das ist gewollt, das ist die
Voraussetzung für die Identifikationskraft des Bundesrates.
Das Aufeinanderprallen von Meinungen ist deshalb kein Fall
für den Gruppendynamiker, sondern natürlicher Ausdruck
eines politischen Meinungsbildungsprozesses.   Mit der
Finanznot ist dieser Prozess schwieriger, schmerzlicher
geworden. Das ist im Vergleich zur Zeit sprudelnder
Steuerquellen eine objektive Erschwerung. Es gibt nichts
mehr zusätzlich zu verteilen, und deshalb schlagen sich die
Verteilungskämpfe schon im Bundesrat nieder.

Das stellt an die Mitglieder einer Konkordanzregierung hohe
Ansprüche. Trotz divergierender Meinungen muss sie eine
kohärente Politik zum Wohle des ganzen Gemeinwesens for
mulieren.   Sie kann deshalb kein Verhandlungsforum sein,
in welchem jedes Mitglied für seine Klientel das Maximum
herauszuholen versucht. Ein Mitglied des Bundesrates bringt
durchaus seine Ueberzeugungen, seine Erfahrung, das Gewicht
seiner Partei ein. Es identifiziert sich durchaus mit den
Ideen und Zielen seiner Partei, es muss glaubwürdiger
Repräsentant seiner Partei bleiben.   Aber es ist nicht
einfach Vertreter einer Klasse, einer Schicht oder einer
Interessengruppe. Durch seine Mitverantwortung für das
Ganze muss es die politische Optik auch voll auf das Ganze
richten, muss das Gemeinwesen immer vor
Partikularinteressen stellen. Das mag mitunter zur Folge
haben, dass ein Bundesrat seiner eigenen Klientel den
kritischen Spiegel vorhalten muss, wenn es um's Ganze geht.

Der Bundesrat muss mehr sein, als die arithmetische Summe
von sieben Partei- und Interessenvertretern!

Sowenig der Staat ein wirtschaftliches Unternehmen ist, so
wenig ist der Bundesrat eine schlagkräftige Konzernleitung.
Seine Handlungsvollmachten sind sehr beschränkt. Er hat das
Vorschlagsrecht und die Ausführungskompetenz, mehr nicht.
Es besteht keinerlei autoritärer Führungsanspruch. Führen
durch den Bundesrat heisst Vorschlagen und Ueberzeugen.
Entscheiden tun Parlament und Volk. Ueberzeugen kann nur,
wer selber überzeugt ist. Die Erfahrung zeigt, dass ein
einiger und überzeugter Bundesrat überzeugender wirkt als
ein zerstrittener. Wir befinden uns also in einem
intensiven Spannungsfeld zwischen oft schwierigen internen
Auseinandersetzungen und der Notwendigkeit, auch
Kompromisse überzeugend zu vertreten.

Das Kollegialitätsprinzip ist eines der Mittel, um diesen
Zielkonflikt zu bewältigen. Es bedeutet nichts anderes als
das Erfordernis, dass alle Regierungsmitglieder auch
Mehrheitsentscheide mitzutragen haben. Oft wird gefordert,
im Zeitalter der Transparenz wäre es ehrlicher, die
Divergenzen nach aussen offenzulegen, statt das Trugbild
geschlossener Kollegialität krampfhaft aufrechtzuerhalten.
Ich glaube, dass die Ueberzeugungsund Führungskraft des
Bundesrates unter einem solchen System leiden würde.
Umgekehrt ist es im Zeitalter der gezielten Indiskretionen
und des Recherchierjournalismus nicht mehr möglich,
tiefgreifende Divergenzen vertraulich zu halten.

Das heisst nichts anderes, als dass die bundesrätlichen
Entscheidungsprozesse in wichtigen Fragen so weit wie
möglich so gestaltet werden müssen, dass die einzelnen
Mitglieder am Schluss Entscheide auch dann mittragen
können, wenn sie nicht immer voll der eigenen Ueberzeugung
entsprechen. Das ist nicht immer einfach. Bundesräte
unterschiedlicher Herkunft und Gesinnung müssen als
Mitglieder einer Kollegialregierung also fähig sein, aus
höherer Einsicht für das Gesamtinteresse über den eigenen
Schatten springen zu können. Sie müssen erkennen, dass
Führen immer auch Verzicht auf die kompromisslose
Verwirklichung der eigenen Vision bedeutet. Die
Ueberzeugung muss also reifen aus der Auseinandersetzung
zwischen der eigenen Position und der Notwendigkeit zum
tragfähigen Kompromiss.

Dieser Prozess ist nicht leicht, und er ist es vor allem in
einer Zeit der Verteilungskämpfe nicht.   Aber nichts
entbindet den Bundesrat davon, diesen Prozess auch in
schwierigen Zeiten zu verbessern. Da lauern natürlich
ständig Gefahren, und auch das beste Kollegium wird im
nervösen politischen Umfeld nicht ohne Fehler durchkommen.
Ein Regierungsmitglied muss sich vor allem hüten,
Prestigepositionen vor den Kollegiumsentscheiden
aufzubauen, weil dies nachher Kompromisse verunmöglicht
oder klare Sieger und Verlierer schafft.

Auch die Personifizierung der Politik in den Medien
erschwert diesen Prozess. Es ist oftmals nicht leicht
darzulegen, warum man in einer gewissen Frage Kompromisse
einging und warum das nicht Opportunismus, sondern Einsicht
in grössere Zusammenhänge ist. Auch die leidige
Politisierung der Verwaltung erleichtert die Arbeit des
Kollegiums nicht. Gerade sie neigt zum Aufbau
departementaler Prestigepositionen, die den zuständigen
Departementschef in Schwierigkeiten bringen können. Der
Bundesrat muss immer wieder streng darauf achten, dass er
die Verwaltung steuert und nicht sie ihn.

 6. These: Das Regierungssystem mag schlecht sein. Aber es
               gibt zur Zeit kein besseres.

Demokratie hat immer etwas Chaotisches.   Meinungen prallen
aufeinander, vieles ist wahr und unwahr zugleich, auch das
Gegenteil, und politische Führung in diesem Umfeld ist nie
etwas Glasklares und Widerspruchsfreies.   Gerade unser
politisches System ist besonders komplex, mit Kontroll- und
Minderheitsschutzmechanismen durchsetzt, geniale Würfe,
aber vielleicht auch geniale Fehler verhindernd.   Auch ich
sehe seine vielen Mängel und Unzulänglichkeiten.   Aber man
darf vor lauter Mängeln die Vorteile nicht verdrängen.   Es
schafft eine ausgeprägte Machtbalance, stellt den Bürger
ins Zentrum, schafft Identifikation, wirkt integrierend,
lässt den Menschen viele Freiräume, und sein Erfolgsausweis
ist beachtlich.

Wenn ich trotz der Mängel derzeit keine echte Alternative
sehe, so vor allem deshalb, weil die Mängel anderer Systeme
grösser sind.   Mehr Bundesräte verteilen vielleicht die
departementalen Lasten besser, aber der interne
Entscheidungsprozess würde unter Gleichberechtigten wohl
nicht mehr bewältigbar.   Die Idee des starken Präsidenten
fasziniert alle Fans einer starken Führung, aber sie
widerspricht helvetischer Reserve gegen starke
Machtballungen und sie erlaubt nicht, die politischen
Kräfte ausgewogen einzubinden.   Welcher Partei, welcher
Sprachgruppe, welchem Geschlecht soll der starke Präsident
angehören?   Und was, wenn sich die Regierungsparteien aus
gegenseitiger Jalousie auf den Schwächsten einigen?   Wie
sehr könnte sich der Präsident auf ein aus vielen Parteien
zusammengesetztes Parlament verlassen, dem Dinge wie
bindende Koalitionsverträge oder Fraktionszwang fremd sind?

Zum Konkurrenzsystem habe ich mich schon geäussert.   Es
hätte einen völligen Umbau des Gesamtsystems
einschliesslich Parteiensystem und direkter Demokratie zur
Voraussetzung, und das halte ich nicht für realistisch.
Zudem würde es in unserer verletzlichen Willensnation
polarisierend und nicht integrierend wirken.

Das kann aber nicht heissen, dass Reformen unnötig wären.
Die Anforderungen an die Bundesräte sind durch die
zunehmende Beanspruchung durch parlamentarische
Kommissionen, durch Auslandkontakte und durch die Medien
erheblich gewachsen.   Der Bundesrat hat eine Reform
vorgeschlagen, die bei Ausschöpfung aller Möglichkeiten
recht tief geht und die grosse Chancen beinhaltet, ohne die
bewährten Grundelemente des heutigen Systems über Bord zu
werfen.   Zuerst wurde sie als zögerlich, mutlos,
rachitisch kritisiert, anlässlich der Erkrankung des
Bundespräsidenten forderte man subito sofortige und
einschneidende Reformen, und jetzt höre ich, dass man nicht
einmal den bundesrätlichen Vorschlag für integral
durchsetzbar hält.   Sie gestatten, dass auch Bundesräte
sich hin und wieder wundern!   Ich würde es bedauern, wenn
die laufende Reform einfach versanden würde!

7.  These: Europa ist für die Schweiz ein Dilemma.
Der Weg aus einem Dilemma führt nie über Schuldzuweisungen
und Konfrontation, sondern nur über den Dialog.

Die Frage, wie wir's denn mit Europa halten wollen,
belastet wie keine andere unser politisches Klima.   Unser
Land ist gespalten.

Eine Hälfte, jene, die am 6. Dezember 1992 verloren hat,
ist für die Oeffnung des Landes, fürchtet die Isolation,
sieht im Mitmachen im Prozess der europäischen Einigung
eine einmalige Chance für eine weltoffene Schweiz der
Zukunft.   Sie fühlt sich durch die Beitrittsentscheide
Oesterreichs, Finnlands und Schwedens  bestätigt.

Die andere Hälfte fürchtet, die Teilhabe an Europa schränke
unsere Souveränität ungebührlich ein, gefährde unseren
Zusammenhalt und unsere Identität.   Die einen teilen die
Schweiz in Fortschrittliche und Hinterwäldler, die andern
in Patrioten und Landesverräter ein.    Die Gegensätze
scheinen unüberbrückbar.   Dadurch gerät unser Land in
einen seltsamen Schwebezustand, der niemanden befriedigt.
Weder streben wir zielbewusst den Anschluss an Europa an,
noch setzen wir selbstbewusst auf den Alleingang.   Man hat
nicht den Eindruck, dieser Schwebezustand werde zu einer
konstruktiven Auseinandersetzung genutzt, die nach einem
politischen Gärungsprozess zu einer tragenden Stossrichtung
unserer Europapolitik führen könnte.   Vielmehr scheinen
sich die Lager einzugraben, die Polarisierung
voranzutreiben.    Während die "Modernisten" eine klare
Vision haben, nämlich den EU-Beitritt, haben die
"Traditionalisten" bisher keine kohärente Vorstellung
entwickelt, welche Schweiz auf Dauer den Alleingang, das
Inseldasein inmitten der EU, ertragen und fruchtbar
gestalten könnte.   Ist es eine Art Monaco der Alpen, ist
es ein zugewandter Ort, ist es ein nachvollziehender
Satellit, ist es eine wirtschaftlich blühende
selbstbewusste Oase, ist es ein multikulturelles
Demokratiemodell im Reagenzglasformat?   Jedenfalls wissen
die "Traditionalisten" besser, was wir nicht sein wollen,
als was wir sein wollen.    Den summarischen Hinweis auf
bilaterale Verhandlungen unter gleichzeitiger Distanzierung
von möglichen Ergebnissen kann man jedenfalls kaum als
wegweisende Vision bezeichnen.

Klar ist, dass die "Modernisten" am 6. Dezember 1992
verloren haben. Die Akzeptierung von Volksentscheiden ist
ein tragendes Element unserer politischen Kultur. Was soll
denn einen politischen Entscheid noch legitimieren, wenn
Volksentscheide schon am anderen Tag relativiert werden!
Viele "Traditionalisten" haben nun den nicht ganz von der
Hand zu weisenden Eindruck, viele "Modernisten" nähmen den
Volksentscheid nicht ernst, politisierten weiter, als ob
nichts geschehen wäre, setzten sich mit leichter Hand über
die Mehrheit von Volk und Ständen hinweg. Das ist in einer
direkten Demokratie ein gefährlicher Eindruck.

Es erstaunt denn auch nicht, dass dieses Unbehagen von
einigen Politikern weidlich genutzt wird, um gegen jedwede
Oeffnungstendenz unserer Aussenpolitik Stimmung zu machen.
Sie wollen nicht zur Kenntnis nehmen, dass die
Aufrechterhaltung von Handlungsfreiheit und von Optionen
auch zu einer verantwortlichen Politik gehören und dass es
demokratisch legitim ist, eine schon einmal negativ
entschiedene politische Frage unter neuen Umständen erneut
zur Diskussion zu stellen. Leider finden Brandstifter auf
beiden Seiten bei einem Teil ihrer politischen Klientel
viel Applaus.

Ich fürchte, dass wir auf diese Weise nicht weiterkommen.
Das scheinen viele Menschen zu spüren. Wenn gemässigte
politische Kräfte einer Streitpause über Europa das Wort
reden und das Volk für eine Weile vom ständigen
Europabombardement verschonen wollen, ist das wohl nicht
einfach ein Zeichen von Angst vor politischer Führung und
von europapolitischem Opportunismus.   Es ist die Frucht
der Erkenntnis, dass ein medienpopulär geführter
Schlagabtausch über Europa derzeit weniger überzeugt als
polarisiert, dass er zu einer Vertiefung der
unversöhnlichen Lager führt.

Eine Streitpause könnte dann fruchtbar sein, wenn sie zum
Denken und zum konstruktiven Dialog genutzt wird. Daran
haben nicht alle politischen Exponenten ein Interesse.
Deshalb wird hüben und drüben zum Kampf um Europa im
Wahljahr geblasen.  Das wird die Schweiz nicht
weiterbringen. Es geht beileibe nicht darum, im Wahljahr
das Thema Europa totzuschweigen.   Das wäre weder
wünschenswert, noch möglich. Es geht um Dialog statt
Aggression.

Viel wäre schon gewonnen, wenn beide Lager anerkennen
würden, dass die Argumente der andern achtbar sind. Wie bei
vielen Dilemmasituationen sind viele Argumente beider
Seiten richtig.   Deshalb ist der Ausweg so schwierig. Und
wir werden erst dann weiterkommen, wenn sich jede Seite
konstruktiv mit den Argumenten der andern auseinandersetzt.

Die Modernisten führen zu Recht ins Feld, dass ein
einzelnes Land, auch ein grosses, vitale Probleme alleine
nicht mehr lösen kann. Zu denken ist an das Drogenproblem
so gut wie an das organisierte Verbrechen, die Asylfrage,
den Umweltschutz oder die Schaffung grosser
Wirtschaftsräume. Da die Zusammenarbeit zwischen vielen
Ländern auf bilateraler Basis nicht bewältigbar ist, sind
multilaterale Ansätze unabdingbar.

Die EWG wurde vor allem mit einer sicherheitspolitischen
und nicht nur mit einer wirtschaftlichen Zielsetzung
geschaffen, und hier wie dort war sie beispiellos
erfolgreich. Die sicherheitspolitische Lage Europas wäre
ungleich gefährlicher, wenn wir noch ein klassisches System
von Nationalstaaten hätten. Davon haben auch wir
sicherheitspolitisch profitiert, und der durchschnittliche
Wohlstand Europas ist signifikant angestiegen.

Wegen der Notwendigkeit der gemeinsamen Lösung der grossen
Probleme wird der historische Druck zur Integration
anhalten. Natürlich gibt es auch zentrifugale Kräfte, und
niemand weiss, wie die EU in zwanzig Jahren aussehen wird.
Aber der geheime Wunsch vieler Europagegner, die EU werde
gelegentlich zerfallen wie der Ostblock, wird sich nicht
erfüllen. Die uns umschliessende EU wird sich schneller
oder langsamer weiterentwickeln, und wir als kleines Land
inmitten eines Giganten werden uns in lebenswichtigen
Bereichen anpassen müssen, wenn wir überleben wollen.
Unsere Autonomie, unsere Souveränität entarten mehr und
mehr zur Scheinautonomie, zur Scheinsouveränität. Der
Gedanke, Mitbestimmung im grossen Entscheidzentrum
kompensiere den Verlust an Autonomie, und Mitbestimmung sei
würdiger als autonomer Nachvollzug, liegt nahe.
Verständlich und durch Indizien belegt ist auch der bange
Verdacht, die Qualität des Werkplatzes erodiere
klammheimlich ob unserer Distanz zur EU. Die schleichende
Abwanderung von Arbeitsplätzen jedenfalls gibt zur Sorge
Anlass. Wer so denkt, denkt logisch und ist kein
Vaterlandsverräter.

Aber auch die "Traditionalisten" haben starke Argumente.
Für keinen Europäer ist beim EU-Beitritt das Opfer an
demokratischer Substanz nur annähernd so gross wie für den
Schweizer. In Oesterreich, Finnland oder Schweden verlagert
sich Macht von Wien, Helsinki oder Stockholm nach Brüssel.
Bei uns würde Macht von jedem einzelnen Stimmbürger nach
Brüssel verlagert.   Jede Kompetenzverlagerung trifft nicht
nur die direkte Demokratie, sondern auch den Föderalismus.
Elemente, die unsere politische Kultur, unsere Identität
ausmachen, werden unzweifelhaft geschwächt. Wer sich darum
sorgt, ist nicht einfach ein Hinterwäldler. Er mag die Idee
des überblickbaren Bürgerstaates über den grossen Wurf der
europäischen Einigung stellen, mag es verschmähen, sich
grösser zu fühlen, nur weil er Teil des Grösseren geworden
ist. Auch zweifeln viele, ob aus wirtschaftlichen Gründen
der Anschluss an ein Gebilde nötig sei, in welchem
Arbeitslosigkeit, Inflation und Staatsverschuldung grösser
als hierzulande sind.

Und manch einem geht's wie mir: Er hat mit seiner Vernunft
eingesehen, dass der Alleingang keine valable Option mehr
ist, aber sein Herz will das noch nicht so recht glauben!

Wir sollten jetzt die für bilaterale Verhandlungen ohnehin
nötige Zeit nutzen, um das Gespräch zwischen den Fronten zu
suchen. Um einander zuzuhören. Um einander zu verstehen. Um
einander ernstzunehmen.

Dabei haben beide Seiten eine Bringschuld. Die Eurofreaks
müssen belegen, dass und wie wir unsere Identität auch in
Europa bewahren könnten, dass wir etwas einzubringen
hätten, was dieses Europa im Suchprozess zwischen
Föderalismus und Zentralismus, zwischen Demokratie und
Technokratie brauchen könnte. Und die Euroskeptiker hätten
darzulegen, welches ihre Vision einer überlebensfähigen,
offenen, solidarischen, europanützlichen und
direktdemokratischen Schweiz im Alleingang ist. Und während
dieser Zeit sollten die einen die anderen mit
provozierenden Beitrittsplänen und die anderen die einen
mit steter EU-Verteufelung und Referendumsdrohungen gegen
jedes Verhandlungsergebnis verschonen.

Ein solcher Dialog könnte dazu führen, dass plötzlich und
auf beiden Seiten sich die Schlagworte von der seriösen
Analyse und Vereinfacher von den ernsthaft ringenden
Politikern zu trennen beginnen; könnte dazu führen, neues
Verständnis über uns selber, unsere Ziele und Möglichkeiten
zu finden.

Vielleicht ergäbe sich aus solchem Dialog ein politischer
Prozess, der in Richtung einer konsensfähigen Europapolitik
führt. In der Zwischenzeit belasse man dem Bundesrat sein
legitimes strategisches Ziel des EU-Beitritts, lasse ihn
seine für das Land möglicherweise einmal wichtigen Optionen
wahren, verlange von ihm konsequente und harte Führung der
bilateralen Verhandlungen. Es gibt keinen Druck, auch nicht
nach den  Beitritten Oesterreichs, Finnlands und Schwedens,
der uns überhastet zu irgendetwas zwingen würde. Aber es
gibt viel Bedarf an Klärung dessen, was wir eigentlich in
Zukunft in diesem Europa sein wollen.

Vielleicht ist dieser Wunsch nach Dialog, nach
gegenseitigem Zuhören, ein frommer Wunsch.   Aber es war
immer auch eine Stärke der Schweiz, an die ich glaube: dass
man sich nach dem Verhallen markiger Worte wieder findet!

SCHLUSS

Meine Damen und Herren!

Immer wieder, so sagte ich am Anfang aus Ueberzeugung und
mit Blick auf unsere Geschichte, hat die Schweiz die Kraft
zur Erneuerung gefunden, ohne darüber ihre historische und
politische Identität zu verlieren. Solche
Regenerationskraft, solchen Glauben an uns selbst, solchen
Zusammenhalt brauchen wir auch heute. Es ist nicht das
erste Mal, dass wir mit der Unsicherheit leben müssen. Es
ist nicht das erste Mal, dass wir uns wieder finden müssen.
Es ist nicht das erste Mal, dass wir zwischen Oeffnung und
Abschottung schwanken. Es ist nicht erste Mal, dass wir uns
auf unsere Stärken besinnen müssen. Und es wäre nicht das
erste Mal, dass wir uns durch Anpacken statt Jammern auch
in einer schwierigen Situation bewährten. Wir haben im
Vergleich zu den meisten Ländern noch immer eine gute
Ausgangslage. Packen wir's also an!

Ausgangs