40 Jahre Stiftung Kartause Ittingen

Bern, 24.10.2017 - Rede von Bundesrat Alain Berset anlässlich der Feier zum 40-Jahr-Jubiläum der Stiftung Kartause Ittingen – es gilt das gesprochene Wort.

Die Kartause Ittingen verkörpert eine Form der Weltabgeschiedenheit, an der man Kraft sammelt für die Welt. Dieser Spiritualität, die in den Alltag hineinwirkt, konnten sich auch frühere Bundesräte nicht entziehen.

Das zeigt eine Episode aus dem Jahr 1981. Damals lud Kurt Furgler als Bundespräsident zum „Bundesratsreisli" in die Ostschweiz ein - auch hierher, in die Kartause Ittingen.

Was damals geschah, verrät uns eine Festschrift von 1983:
„Die Ordensregeln jener frommen Männer, die früher hier gebetet haben, sie lassen auch zwei Bundesräte inne halten. So stehen sie, Georges-André Chevallaz, der Chef des Militärdepartements, und Willi Ritschard, der Finanzminister, im Kreuzgang vor der Tafel mit den Ordensregeln. ‚Wenn du‘, richtet sich Chevallaz an Ritschard, ‚so viel beten würdest wie ein Mönch, dann hättest du viel weniger Sorgen mit deinen Finanzen.‘ Bundesrat Ritschard erwidert lächelnd: ‚Und würdest du, mein Lieber, auch so lange schlafen wie ein Mönch, du könntest viel, viel weniger Geld ausgeben für dein Militär‘."

Sie sehen: Die mönchischen Ideale der Kartäuser prägen sogar die Finanzpolitik des Bundes.

Heute feiern wir den 40. Geburtstag der Stiftung Kartause Ittingen, dieser wertvollen Institution, die weit über den Kanton Thurgau hinausstrahlt.

Die Kartause ist ein Erfolgsbeispiel für eine fruchtbare Zusammenarbeit mit ihrer kulturhistorischen Bedeutung, mit der jahrhundertelangen Nutzung und mit der von allen staatlichen Ebenen und Privaten getragenen Finanzierung, der kontinuierlichen sanften Sanierung und Restaurierung der Anlage während der vergangenen 40 Jahre.

Sie zeigt eindrücklich, dass die regional geprägte kulturelle Vielfalt der Schweiz nicht einfach da ist, sondern kontinuierlich erarbeitet werden
muss.

An den angesprochenen klösterlichen Werten orientiert man sich hier immer noch. Die Kartause Ittingen ist mit ihrer heutigen Nutzung als Kultur- und Seminarzentrum sowie dem dazugehörigen Guts- und Sozialbetrieb ein Ort der Begegnung, der Vertiefung, der Reflexion und der Selbstreflexion. Und ebenso sehr auch ein Ort der Gastfreundschaft, der Naturverbundenheit, der Selbstversorgung und der Fürsorge.

Der Kartäusermönch Guigo von Chastel schrieb um 1130:
„Welchen Gewinn und göttlichen Genuss die Einsamkeit und das Schweigen der Einöde denen bereiten, die sie lieben, wissen nur jene, die es erfahren haben."

Die Kartause Ittingen ist ein Ort der Kommunikation - der aber in einer Kultur des Schweigens wurzelt. Ein Paradox - oder doch nicht?

Das erscheint eher wie eine Mahnung, dass das Reden nicht auf Kosten des Zuhörens gehen darf. Gewiss: Ohne lebendige, konstruktive Kommunikationskultur ist keine Demokratie möglich. Aber zur Kommunikation gehören reden und zuhören. Und zwar gleichberechtigt.

Zuhören ist aber nicht nur gleich wichtig wie reden - es ist auch mindestens so schwierig. Zuhören, das ist - oder wäre - geradezu die Grundkompetenz in der politischen Debatte. Heutzutage ganz besonders.

Trump, Brexit, die Wahlen in Deutschland, in Österreich, in Tschechien: Alle diese Zäsuren gründen im Leitmotiv, dass sich weite Teile der Bevölkerung abgehängt, nicht ernst genommen fühlen mit ihren Problemen und mit ihren Ängsten.

Es gilt, auch und gerade jenen zuzuhören, die fundamentale Kritik äussern am Status quo. Wer zuhört - wirklich zuhört - erfährt, dass auch die sehr kritische Perspektive legitim ist. Und vielleicht sogar zu interessanten Erkenntnissen führt.

Anderseits gilt es aber auch, alles zu tun, um diese fundamentalen Kritiker zu überzeugen - manchmal auch, indem man offen sagt, dass sich nicht alle Probleme einfach lösen lassen.

Der wirtschaftliche Strukturwandel führt zu Verwerfungen, die Digitalisierung zwingt zu ständiger Weiterbildung und der demographische Wandel macht Reformen des Rentensystems und des Gesundheitswesens unverzichtbar.

Das deutlich auszusprechen, braucht einen gewissen Mut - Applaus jedenfalls darf man nicht erwarten. Aber das gehört zur Verantwortung aller Akteure in unserer Demokratie. Denn wer leere Versprechungen macht, wer Probleme klein redet, der vergrössert die Probleme.

Was die gegenwärtige Situation besonders anspruchsvoll macht, ist die Tatsache, dass sich drei Entwicklungen überschneiden - und sich wechselseitig verstärken.

1. Die Fragmentierung der öffentlichen Debatten durch das Internet, die Filterblasen und Echokammern.
2. Die Strukturkrise der klassischen Medien und die weitgehende Entmachtung der Meinungsmacher - analog zur Reformation vor 500 Jahren mit ihrer DeLegitimierung kirchlicher Hierarchien.
3. Und schliesslich erleben wir in vielen Gesellschaften ein ähnliches Phänomen: Sie sind hoch polarisiert und tief gespalten. Die Gründe reichen von der Ungleichheit und den Abstiegsängsten der Mittelschicht bis zu einem Gefühl des Heimatverlustes bei vielen Menschen. Vor allem bei den weniger Privilegierten.

Man kann lange über die Ursachen des diffusen Unbehagens und der manifesten Wut rätseln, aber eigentlich wissen wir alle: die Mitte der Gesellschaft muss überzeugt sein, dass es in ihrem Land fair zu- und hergeht.

Die Politik muss das gesellschaftliche Vertrauen stärken: Und das geht nur, indem wir als Gesellschaft allen gute Lebensperspektiven bieten und die wachsende Unsicherheit nicht einfach fatalistisch hinnehmen.

Wir müssen handeln - und zwar unter Zeitdruck. Wir müssen alle mitnehmen - bevor sich noch mehr Leute politisch entfremden. Die lange Geschichte der Kartause Ittingen zeigt uns, dass die Arbeit nie ausgeht - auch und gerade, wenn es eine Arbeit an etwas Bestehendem ist.

In der Architektensprache heisst das: Bauen im Bestand. Also wertsteigernde Baumassnahmen an bestehenden Gebäuden vornehmen. Genau das ist es: Wir brauchen wertsteigernde politische Massnahmen am Gebäude unserer Gesellschaft. Vieles ist gut hierzulande - aber einiges muss verbessert werden.

Die Kartause Ittingen zeigt exemplarisch, dass Bauen im Bestand nicht Stillstand bedeuten muss. Alle beteiligten Partner haben in ihren Tätigkeiten stets ein hohes Bewusstsein für den Wert der Kartause gezeigt. Sind ihr respektvoll begegnet und haben den Genius Loci beachtet: Museen und weitere Betriebe haben darin Platz gefunden, ohne dass die Anlage musealisiert wurde - auch hier drängt sich eine Analogie zum Politischen auf: Nostalgie ist verständlich - aber eben auch gefährlich, denn sie weckt unerfüllbare Hoffnungen.

Die dem ursprünglichen Zweck der Klosteranlage nahe stehende, breite heutige Nutzung ist Ausdruck der kulturellen Teilhabe der Bevölkerung. Sie bildet einen unverzichtbaren „Ort lebendiger Kultur", der gegenüber neuen Entwicklungen offen ist.

Kurz: Die Kartause Ittingen ist ein guter Ort, um sich zu vergegenwärtigen, dass das, was die Schweiz ausmacht, was sie zusammenhält, was sie voranbringt, immer wieder neu erörtert und erarbeitet werden muss. 

Dieses Erarbeiten geht erst morgen weiter. Und deshalb tue ich jetzt das, wofür die Kartäuser weltberühmt sind: schweigen.


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