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1. Mai-Ansprache von Bundespräsident Moritz Leuenberger, Interlaken / Unterseen

1. Mai-Ansprache

von Bundespräsident Moritz Leuenberger, Interlaken / Unterseen, 1. Mai 2001

1. Macht der 1. Mai noch einen Sinn?

Danke für die Einladung. Ich habe einen Moment gezögert. Soll ich dieses
Jahr an einer Mai-Feier teilnehmen? Macht der 1. Mai eigentlich noch einen
Sinn?

Wenn ich etwa an Zürich denke, wo sich die ganze Diskussion um den 1. Mai
nur noch darum dreht, wie sich die Stadt und die Läden vor Gewalt, vor
Vandalismus schützen, fragen sich viele: Ist das das Ziel des 1. Mai?

Wenn ich an das Ritual des Absingens der Internationalen denke, wenn ich mir
diesen Text genau ansehe: "Auf zum letzten Gefecht usw": Sind dies die
Probleme, die uns heute beschäftigen?

Aber auch wenn ich daran denke, was auf dem über 100 Jahre langen Weg der
Arbeiterbewegung und der Geschichte der Sozialdemokratie alles erreicht
worden ist: geregelte Arbeitsverhältnisse, gut ausgebaute
Sozialversicherungen, Schulen und Universitäten, die allen zugänglich sind,
auch denjenigen aus finanziell schlechten Verhältnissen, so dass das 20.
Jahrhundert schon als sozialdemokratisches Jahrhundert bezeichnet wurde. Zu
Recht, denn ohne die Sozialdemokratie, ohne die Gewerkschaften wäre die
Schweiz, wäre Europa nicht so sozial, nicht so demokratisch wie heute.

Ist der 1. Mai überflüssig geworden?

Ich habe mir dann gesagt:
Seit über dreissig Jahren nehme ich am 1. Mai teil. Er hat mir immer sehr
viel bedeutet. Ich erinnere mich, wie ich früher in romantischer, ja fast
revolutionärer Stimmung feierte, wie ich mich am 1. Mai mit meinen Freunden
unterhalten habe über unsere Ideen der Solidarität und darüber, wie die
Schweiz sozial gestaltet werden muss:

Da kann ich doch nicht ausgerechnet in diesem Jahr an das Albisgüetli und
den Automobilsalon gehen, aber nicht an den 1. Mai!

Ich musste mir aber auch sagen:

- Gerade heute, wo nach dem Fall der Berliner Mauer die Globalisierung und
der freie Welthandel als unsozial angeprangert werden und zum neuen
Kriterium zwischen "links" und "rechts" werden,

- gerade jetzt, wo öffentlich darüber diskutiert wird, was "noch
 sozialdemokratisch sei und was nicht,

- gerade jetzt, wo sozialdemokratische Manager kritisiert werden, weil sie
zuviel verdienen,

- gerade jetzt, wo sich die Schere zwischen arm und reich wieder öffnet,

- gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus wieder Fuss fasst, und zwar nicht
nur nördlich der Grenzen sondern da, bei uns:

- Gerade hier und jetzt, habe ich mir dann gesagt, muss ich an den 1. Mai.

- Gerade heute muss ich auch die Frage beantworten, ob sozialdemokratische
Regierungsvertreter den Ansprüchen, die sie selber früher an den 1.
Maifeiern forderten, gerecht werden.

2. Die Ziele des 1. Mai

In den letzten 100 Jahren wurden an den Maifeiern mehr oder weniger immer
die gleichen Ziele gefordert:

- Eine gerechte Gesellschaft, ein Staat, in welchem Chancengleichheit
besteht. Das Recht auf Ausbildung, auf Freizeit und Kultur, auf Zugang zu
den technischen Errungenschaften soll von allen wahrgenommen werden können.

- Eine solidarische Gesellschaft: Alle sollen Arbeit haben und davon leben
können. Auch bei Krankheit, auch im Alter soll das Leben menschenwürdig
sein.

- Keine Spaltung in eine 1., 2. und 3. Welt. Freiheit, Gerechtigkeit und
Solidarität sollen überall Geltung haben.

- Eine Welt ohne Hass, ohne Gewalt. Dies ist keineswegs eine leere Floskel,
wie sie halt in jede 1. Mai-Rede gehört. Gerade Ihr in Unterseen habt
erfahren, dass dies alles andere als selbstverständlich ist. Die
schreckliche Abrechnung unter Jugendlichen, die im Banne rechtsextremer
Gewaltfantasien gestanden sind, hat die ganze Schweiz aufgewühlt. Die
Schweiz hat aber nach Unterseen geschaut, da Ihr an den Schulen, an
Parteianlässen, mit Demonstrationen gezeigt habt: Wir wollen, dass sich so
etwas nie mehr wiederholen kann. Ich danke Euch dafür, denn auch, um das zu
unterstreichen, bin ich hierher gekommen.

3. Verrat am "sozialdemokratischen Jahrhundert"?

Auch zu Beginn dieses neuen Jahrhunderts prägen Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten die politische Landkarte Europas. Teils regieren sie
alleine, teils in Koalitionen mit Kommunisten und mit Liberalen. Und teils
nehmen sie ihre Regierungsverantwortung, wie bei uns in der Schweiz, aus
einer Minderheitsposition wahr.

Doch halten diese sozialdemokratischen Regierungen und Minister im neuen
Jahrhundert, was sie im vergangenen 20. Jahrhundert versprochen haben?

- Sozialdemokraten treiben den gemeinsamen europäischen Markt voran und
liberalisieren nationale Infrastrukturen wie Telekommunikation, Post, Bahn
oder Stromversorgung.

- Sozialdemokraten reformieren das öffentliche Gesundheitswesen und die
Systeme der sozialen Sicherheit.

- Sozialdemokraten haben vor zwei Jahren eine bewaffnete Intervention im
Kosovo bejaht und bauen heute eine europäische Armee auf.

Tasten heute also ausgerechnet Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten die
grossen Errungenschaften des "sozialdemokratischen Jahrhunderts" an: Den
Service public? Die soziale Sicherheit? Die Gewissheit, dass es nie wieder
Krieg geben dürfe?

Jedenfalls ist in unserer Partei und in den Gewerkschaften eine engagierte
Diskussion darüber entbrannt, auf welchen Wegen wir heute zu unseren Zielen
gelangen, was heute noch "sozialdemokratisch" sei und wer nicht.

4. Die tägliche Herausforderung

Auch ich stehe täglich vor dieser Frage:

- Ich bin der entschiedenen Meinung, dass zu grosse Lohnunterschiede den
sozialen Frieden auf Dauer gefährden. Mein Traum war stets - und ist auch
heute - eine Gesellschaft, in der alle Menschen gleich viel verdienen.
Trotzdem unterstütze ich die PTT- und die Bahnreform, auch wenn eine Folge
dieser Reformen nun ist, dass die Kaderlöhne bei Swisscom, Post und SBB
ebenfalls gestiegen sind. Gewiss, es wäre einfacher gewesen, die SBB als
Anstalt zu belassen, statt sie in eine AG zu überführen und sie teilweise
dem Wettbewerb zu öffnen. Aber das wäre im Hinblick auf die Konkurrenz der
Strasse nicht verantwortungsvoll! Heute hat die SBB Marktanteile gewonnen,
und sie schreibt wieder schwarze Zahlen. Sie hat einen Stellenabbau ohne
Entlassungen durchgeführt, und sie hat Mindestlöhne, die weit über den
Tiefstlöhnen anderer Branchen liegen. Einverstanden, vielleicht haben wir
uns zu stark nur darauf konzentriert. Vielleicht müssen wir in Zukunft auch
für die hohen Löhne Richtlinien vorgeben. Aber der wahre Skandal sind nicht
die Löhne der Generaldirektoren. Der wahre Skandal sind die Tiefstlöhne in
der Privatwirtschaft, die von der Fürsorge nachgebessert werden müssen,
damit sie zum Leben ausreichen. Der Skandal sind hunderttausende von working
poors im reichsten Land der Welt. Das ist der Schandfleck, der getilgt
gehört, und zwar nicht morgen, sondern heute.

Der Transportwahnsinn auf unseren Strassen - aber auch derjenige im
Luftverkehr! - entlockt uns gelegentlich nur noch ein Kopfschütteln:
Kartoffeln aus Italien, die zum Waschen nach Deutschland gekarrt werden.
Täglich zwei bis vier Lastwagenladungen Pizzateig, die aus der Schweiz nach
Italien unterwegs sind. Diese Beispiele liessen sich beliebig vermehren.
Wenn schon gehörten solche Transporte auf die Schiene. So will es das
Schweizervolk, und das ist auch die Politik der Sozialdemokratischen Partei.
Es führt kein Weg an dieser Verlagerungspolitik vorbei. Dass er lang ist und
nicht sofort greift, weil uns nicht die nötigen Instrumente in die Hand
gegeben wurden, haben wir immer deutlich gesagt.

Ich kann der Logik der Börse nicht sehr viel abgewinnen. Trotzdem schliesse
ich nicht aus, dass der Bund eines Tages gezwungen ist, weitere Aktienpakete
der Swisscom oder ihrer Tochtergesellschaften zu verkaufen. Das könnte nötig
werden, um die Interessen der Swisscom selbst zu wahren und auch um die
Substanz des in diesem Unternehmen angehäuften Volksvermögens zu erhalten.

5. Wider eine Verelendungspolitik

Ich erinnere mich noch gut: Als ich vor gut 30 Jahren in die
Sozialdemokratische Partei eintrat, verspotteten mich meine noch linkeren
Freunde: "Jetzt ist Dein Weg zum Pflästerlipolitiker vorgespurt".

Das war ein Schimpfwort. Ich stehe zur Pflästerlipolitik. Für mich ist sie
eine Verpflichtung:

Das Rote Kreuz macht Pflästerlipolitik. Unsere Entwicklungszusammenarbeit
ist Pflästerlipolitik. Eine Gewerkschaft, die bei Entlassungen Sozialpläne
aushandelt, macht Pflästerlipolitik. Und so ist manchmal eben auch die
Politik von uns Sozialdemokraten Pflästerlipolitik.

Was wären die Alternativen dazu?

Eine Verelendungspolitik, die auf die heilende Kraft von Katastrophen setzt?
Das wäre verantwortungslos.

Wir dürfen uns einfach nicht damit begnügen, auf abstrakten Prinzipien zu
beharren und empört auf die böse Realität zu zeigen!

Es war immer eine Maxime der Sozialdemokraten und Gewerkschaften,
Verantwortung wahrzunehmen. Mit Gesamtarbeitsverträgen, mit Referenden und
Initiativen, durch die Arbeit im Parlament und auch durch die Arbeit in
Regierungen. Wir wollen Einfluss auf die Gesellschaft nehmen, wir wollen uns
an der Macht beteiligen, in den Gemeinden, im Kanton, beim Bund.

6. Für eine Politik zugunsten der Benachteiligten

Doch es gibt in unseren Kreisen da und dort die Tendenz, sich gegen alle
Veränderungen kurzerhand zu wehren und den neuen Fragen, die auf uns
zukommen, auszuweichen.

Schauen wir auf unsere eigene Geschichte zurück: Sozialdemokratie und
Gewerkschaften sind selber Kinder einer epochalen Veränderung. Ihre
Geburtsstunde war die industrielle Revolution. Unsere politischen Vorväter
sind damals nicht angetreten, um sich gegen die Industrialisierung zu
wehren, sondern es ging ihnen immer darum, die Chancen dieser Entwicklung
für alle zu mehren und die Rechte der Betroffenen und der wirtschaftlich
Benachteiligten zu wahren.

Das war damals kein einfacher Weg, das ist heute kein einfacher Weg.

7. Verantwortung statt Populismus

Wieviel leichter wäre es doch, wenn wir uns vom Hochsitz programmatischer
Reinheit aus mit Kritik an den Auswüchsen des kapitalistischen Systems
begnügen würden. Wieviel leichter wäre es, immer nur Nein zu sagen. Man kann
damit zwar sogar Wahlerfolge erzielen. Aber wäre das auch
verantwortungsvoll?

- Ja, es wäre einfacher, die Öffnung des Strommarktes zu bekämpfen. Auch ich
habe mich lange gefragt: Muss das wirklich sein? Ist es nötig, dass der
Strom ein paar Rappen billiger wird, wo das doch nur den Konsum und die
Verschwendung anheizt? Aber wäre es auch verantwortungsvoll, einfach Nein zu
sagen, und damit eine ungeordnete Öffnung nach Wildwest-Manier zu
provozieren, von der nur die Grossen profitieren könnten? Heute haben wir
ein Gesetz, das den Service public sicherstellt und auch den kleinen
Konsumentinnen und Konsumenten Wahlfreiheit ermöglicht. Ein Gesetz, das die
betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schützt und die Wasserkraft
und andere saubere Energien wettbewerbsfähiger macht. Unsere Fraktion im
Bundesparlament hat diesem Gesetz den Stempel aufgedrückt. Es an der Urne
abzulehnen, wäre wirklich ein Eigengoal.

- Ja, es wäre einfacher, das Militärgesetz abzulehnen. Frieden schaffen mit
Waffen? Nein danke! Aber wäre das auch verantwortungsvoll? Ganz sicher
nicht! Sicherheit in Europa dient auch uns. Schweizer Soldaten müssen das
Recht haben, sich selber zu schützen. Wir können uns um Friedensmissionen
der UNO nicht einfach foutieren. So haben wir die schweizerische Neutralität
nie verstanden, als egoistische Gesinnungsneutralität. Internationale
Solidarität war für uns immer eine Selbstverständlichkeit, genau so wie wir
uns immer für die Benachteiligten im eigenen Land eingesetzt haben.

8. Der aufklärerische Fortschritt geht weiter

Diese beiden Kernanliegen der SP und der Gewerkschaften lassen sich nicht
auseinander dividieren. Es ist kein Zufall, dass die gleichen politischen
Kräfte, die eine polemische Kampagne gegen das Militärgesetz entfacht haben
und die schon heute Stimmung gegen den längst fälligen UNO-Beitritt machen,
auch einen schwachen Staat fordern, Steuerabbau propagieren, bei der
Klimapolitik ein Rechtsumkehrt fordern und bei der 11. AHV-Revision nur an
eines denken: ans Sparen und nochmals ans Sparen.

Abschottung nach aussen, Abbau im Innern.

Diese Zusammenhänge müssen wir all jenen klar machen, die glauben, denen "da
oben" eins auswischen zu können, wenn sie sich zur extremen Rechten
gesellen.

Wir haben eine Verantwortung für alle, die in diesem Lande benachteiligt
sind. Sie leiden am meisten darunter, wenn der Staat lächerlich gemacht
wird, wenn die Solidarität verhöhnt wird, wenn Nationalegoismus gepredigt
wird.

Die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften haben den aufklärerischen
Fortschritt stets vorangetrieben. Wir haben die Chancen des
wirtschaftlichen, des technologischen und kulturellen Wandels genutzt
zugunsten der Benachteiligten, zugunsten der Gleichberechtigung von Frauen
und Männern, zugunsten der Umwelt.

Das ist unser Ziel auch heute und in Zukunft. Und mit "unser" meine ich
wirklich auch uns alle. Die sozialdemokratischen Regierungen und
sozialdemokratischen Minister sind nur ein Teil der SP und der
Gewerkschaften. Der wichtigere Teil besteht in der Arbeit an der Basis. Wir
haben je unsere Funktionen. Aber wir haben das gleiche Ziel. Das Ziel ist
noch keineswegs erreicht.

Der 1. Mai ist nicht überflüssig geworden.