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Die Pflicht und Schuldigkeit, den Service public umzugestalten - Parteitagsrede von Bundesrat Moritz Leuenberger

Die Pflicht und Schuldigkeit, den Service public umzugestalten

Parteitagsrede von Bundesrat Moritz Leuenberger
Lugano, 14. Oktober 2000

Wir widmen diesen Parteitag dem Service public. Seit ich Bundesrat bin, habe
ich an jedem schweizerischen Parteitag zum Service public gesprochen. Die
Mitglieder der Fraktion diskutieren wöchentlich an ihren Sitzungen, aber
auch öffentlich miteinander, und alle Sektionen in der Schweiz haben in den
vergangenen Wochen darüber debattiert. Der Service public bewegt uns so
stark, weil er die konkrete Umsetzung der wichtigsten Grundprinzipien
unserer Partei bedeutet. Bevor wir über diese Umsetzung reden, müssen wir
uns die Grundsätze selber in Erinnerung rufen.

Unser Ziel

Wir streben eine friedliche Gesellschaft an, ohne Hass, ohne Gewalt und ohne
Rassismus, eine Gesellschaft mit aufgeklärten, mündigen und selbständigen
Menschen, eine Gesellschaft, die Solidarität auch zu künftigen Generationen
und zur Umwelt übt. Wir wollen Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit,
weltweite Solidarität; wir wollen Liberté, Egalité, Fraternité.

Eine aufgeklärte Gesellschaft: Keine Selbstverständlichkeit!

Dies festzuhalten, ist leider nicht überflüssig, denn wir erleben eine
Verhöhnung, Verspottung, eine Missachtung dieser Grundsätze, wenn wir auf
den tagespolitischen Kalender blicken:

- Rassismus als Arenagaudi?

Die eidgenössische Kommission gegen Rassismus ist wenig in Erscheinung
getreten, bis sie sich kürzlich mit der Cabaretfigur des von Victor Giacobbo
gespielten Inders beschäftigte. Ursache war die Anzeige eines
SVP-Nationalrates: Ob dies Rassismus sei? Die mediale Schweiz hat
geschmunzelt und gespöttelt.

Wir nicht.

Mit dieser Anzeige ist von der eigenen Verantwortung abgelenkt worden, von
der eigenen Schuld für eine gefährliche Stimmung, die durch Inserate,
Plakate, durch unzählige Sticheleien in Reden aufgeheizt worden ist. Der
Kampf gegen Rassismus und Rechtsextremismus ist durch diese Anzeige der
Lächerlichkeit ausgesetzt worden. Antirassismus ist keine Cabaretnummer. Wer
dies glaubt, verlacht einen der Grundsätze der Menschlichkeit. Ich danke
unseren Genossinnen und Genossen, die mit FDP und CVP verhindert haben, dass
diese Ablenkungsmanöver zum Arenagaudi verkommen konnte.

- Nicht für den Computer lernen wir...

Es ist richtig, dass wir uns heute unter dem Aspekt des Service public auch
mit Kinderbetreuung befassen werden. Unser Erziehungswesen hat mit unseren
Grundsätzen und deren Umsetzung sehr viel zu tun. Zum Beispiel die
Diskussion um das Frühenglisch:

Ich befürworte diesen Englischunterricht. Aber Frühenglisch ersetzt nicht
die Erziehung zu den vier Kulturen unseres Landes, und es erschöpft sich die
wichtige Aufgabe der Schule nicht in diesem einen Fach. Englisch ist nicht
blosses Prokuristenesperanto, sondern eine Sprache. Wir lernen nicht
englisch, um die Gebrauchsanweisung eines Computers verstehen zu können. Die
Schule ist nicht dazu da, der Wirtschaft zuzudienen. Schüler sind nicht
künftige Arbeitskräfte. Kinder sind nicht Informatiker im Rohzustand, die
bloss noch computerkonditioniert werden müssen, sondern es sind Menschen,
die zu mündigen, aufgeklärten Demokraten werden sollen, damit sie sich nicht
später von Kampagnen wie derjenigen gegen die Energievorlagen blenden
lassen.

- Tankfreiheit statt Gedankenfreiheit?

Ein seltsames Verständnis, was die Rolle des Staates sei und welchen Service
public er zu erbringen habe, zeigte sich kürzlich europaweit und auch bei
uns:

Als die Ölpreise stiegen wegen dem Dollarkurs und den zurückgehaltenen
Fördermengen, als die Gewinne in Amsterdam und den arabischen Wüsten
explodierten, da hörten wir von anderer Seite, was sie vom Staat erwartet:

Der Staat soll das Benzin verbilligen. Er soll also (mit Steuergeldern) die
Gewinne anderer finanzieren. Denn es ist offenbar für einige ein
Menschenrecht, mit den Autos möglichst billig herumfahren zu dürfen. Da geht
es nicht um Gedankenfreiheit sondern um Tankfreiheit! Es geht nicht um "l'
esprit des lois" sondern um "den sprit pour moi". Es geht um Freiheit,
Geschwindigkeit, Ichbezogenheit.

Wir sehen: Um den Service public kümmern sich auch andere. Und wir wissen:
Wenn wir ihn nicht mitprägen, dann definieren ihn andere - ohne uns. Das
zeigt uns auch: Wir haben die Pflicht und die Schuldigkeit, unsere
Vorstellungen einzubringen und umzusetzen.

Das Ziel des Service public

Das Antragspapier des heutigen Parteitages fordert "einen starken und
modernen Service public": Ja, dafür treten wir alle mit Überzeugung ein.

Alle Menschen unseres Landes, ob arm oder reich, jung oder alt, ob sie in
der Stadt wohnen oder in einem Bergtal, haben das Recht, zu gleichen
Bedingungen mit guten Dienstleistungen bedient zu werden. Der Service public
ist ein wichtiges Element einer gerechten Gesellschaft, wie wir sie uns
vorstellen.

Nicht die kleinste Differenz trennt uns hier. Unsere Diskussionen drehen
sich um eine andere Frage: Welcher Weg führt, besser:

Welche Wege führen zu diesem Ziel?

Ich glaube nicht an ein Entweder - Oder - entweder Staat oder Markt,
entweder Monopol oder Wettbewerb,  entweder Regulierung oder Deregulierung.
Ich glaube auch nicht an den so genannten dritten Weg, der alle Widersprüche
elegant aus der Welt schafft. Ich bin vielmehr davon überzeugt, der Weg zu
einem Ziel müsse immer wieder neu gesucht werden, für jeden Bereich einzeln,
und dass ein Weg nie für immer vorgegeben ist.

Als junger Anwalt habe ich vor zirka 25 Jahren zusammen mit der Gewerkschaft
einem älteren Berufschauffeur dazu verholfen, bis zur Pensionierung sein
vorsintflutliches, jedenfalls weder den Umwelt- noch den Sicherheitsnormen
entsprechendes Kehrichtfahrzeug der Gemeinde fahren zu dürfen. Der Mann
hätte sich nicht mehr an ein neues Gefährt gewöhnen können und umgekehrt
konnte niemand anderes mehr den Lastwagen lenken. Für die Gewerkschaft und
mich war der Erfolg damals vor allem ein politischer, erlaubte er dem Mann
doch, Würde und Arbeit zu behalten.

Dieses selbe Ziel, dem Chauffeur Würde und Arbeitsplatz zu erhalten, würde
ich auch heute noch anstreben. Aber ich würde ihm und der Gewerkschaft ein
anderes Mittel empfehlen, als sich für den Dynosaurier von einem Lastwagen
einzusetzen und diesen zu retten.

Es ist nicht einfach das Bisherige, das Altbewährte das einzige und richtige
Mittel, das politische Ziel zu erreichen. Das gilt für den Lastwagen wie für
ganze Infrastrukturaufgaben.

Was ist sozialdemokratische Politik?

Welches ist der richtige Weg? Was ist "noch" sozialdemokratisch und was
"nicht mehr"? Professor Arnold Künzli hat in verdankenswerter Analyse meiner
diversen Parteitagsreden in der WoZ seine Kritik an der Sozialdemokratie auf
den Punkt gebracht: Die Sozialdemokratie sei nicht geschaffen worden, um
Tunnel in die Alpen zu bohren. Die wahre Sozialdemokratie beschränke sich
auf Analyse und Kritik.

Echt sozialdemokratisch wäre es also, statt Eisenbahntunnel durch die Alpen
zu bauen, den zunehmenden Lastwagenverkehr zu zählen und ihn als üblen
Ausfluss eines kapitalistischen Merkantilismus zu geisseln.

Ist das politische Verantwortung? Für mich nicht. Dass wir Sozialdemokratie
immer mit dem Willen, unsere Grundsätze auch in der Tagespolitik umzusetzen,
verbanden, dass wir sie immer mit Regierungsverantwortung verbanden, aber
auch mit Verantwortung im Parlament, mit Verantwortung bei Initiativen und
Referenden und in Abstimmungskämpfen, ist ein Wesensmerkmal unserer Politik.

Gerade die Verkehrspolitik zeigt dies. Sie ist ein Paradebeispiel des
Service public, nämlich einer Politik, die alle Regionen dieses Landes zu
gleichen Bedingungen bedienen will, die sich europäisch einordnen will und
die auf die Umwelt Rücksicht nehmen will. Diese Verkehrspolitik hätten wir
nie umsetzen können, wenn wir keinen Einfluss nähmen, uns nicht an der Macht
beteiligen würden.

Die Sozialdemokratie hat nie einen einzigen Weg gekannt

Aber zurück zu den verschiedenen Wegen, die zu unserem Ziel -
Chancengleichheit, Gerechtigkeit, Freiheit - führen:

- Vor hundert Jahren litten Arbeiterfamilien Hunger, weil die Lebensmittel
zu teuer waren. Sie forderten aber nicht staatliche Bäckereien oder
staatliche Metzgereien, sondern sie gründeten eigene Konsumgenossenschaften.
Das war damals für ihr Problem der richtige Weg zur Lösung. Diese
Genossenschaftsbewegung hat einen Markt zum Funktionieren gebracht, und
davon profitieren wir heute noch.

- Die Gebäudeversicherungen sind in den meisten Fällen kantonale Monopole.
Die Versicherten bezahlen hier günstigere Prämien als in den Kantonen ohne
Monopol. Das staatliche Monopol ist in diesem Bereich also die bessere
Lösung. Deswegen habe ich mich als Zürcher Regierungsrat mit aller Vehemenz
für dieses Monopol eingesetzt.

- Die SUVA ist eine gut funktionierende öffentliche Anstalt. Gibt es einen
vernünftigen Grund, sie zu privatisieren und die Unfallversicherung einem
ungebremsten Wettbewerb zu öffnen?

- Wir haben eine Bahnreform durchgeführt und die SBB im Güterverkehr dem
Wettbewerb ausgesetzt. Das war nötig, um die Schiene gegenüber der Strasse
zu stärken und die Verlagerung voranzutreiben. Im nationalen Personenverkehr
hingegen blieb das Monopol der SBB bestehen. Hier hätte die Liberalisierung
zu einer Rosinenpickerei geführt, die Randregionen wären vernachlässigt
worden. Wir wählten darum eine differenzierte Lösung.

Es gibt also Bereiche, wo eine schrankenlose Liberalisierung zu sozialen und
regionalen Ungerechtigkeiten führt. Hier ist das Monopol der richtige Weg.
Es gibt andere Bereiche, wo staatliche oder öffentlich kontrollierte
Unternehmen mit privaten Unternehmen im Wettbewerb stehen. Und es gibt
schliesslich Bereiche, wo der Markt alle besser versorgt, als es ein Monopol
könnte.

Die Marktwirtschaft braucht einen starken Staat

Der Markt allein kann nie unser Ideal sein. Er belohnt die Klügeren,
Schnelleren und Tüchtigen und schiebt die Schwachen und Langsamen auf die
Seite. Er stärkt die Zentren und schwächt die Peripherie. Er nimmt keine
Rücksicht auf die Umwelt und die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen. Die
reine Marktwirtschaft schafft eine egoistische, unsolidarische, kalte Welt,
die niemals unsere Vision sein kann. Sie wurde in unseren Reihen auch nie
vertreten.

Marktwirtschaft, wie wir sie meinen, braucht einen starken Staat, der für
den sozialen und regionalen Ausgleich sorgt, der den Schutz der Umwelt
sicherstellt und der auch die Gefahr von privaten Monopolen bannt und einen
fairen Wettbewerb garantiert

Unser Ziel ist daher nie die Liberalisierung, niemals die Privatisierung als
solche. Diese sind allenfalls Mittel, um eine optimale Grundversorgung
sicherzustellen und die wirtschaftlichen Interessen der Schweiz zu wahren.
Welches Mittel in welchem Fall das richtige ist, muss Gegenstand unserer
täglichen politischen Diskussionen sein.

Swisscom

Heute diskutieren wir den "richtigen" Weg für die Swisscom. Viele von uns
verstehen nicht, warum nicht alles so bleiben kann, wie es ist. Andere
fürchten um den Service public, wenn die Eidgenossenschaft nicht mehr
Swisscom-Mehrheitsaktionärin ist. Und alle sind wir irritiert über den
raschen Wandel im Telekommunikationsbereich und wollen keine Voreiligkeiten
begehen. Das Tempo ist tatsächlich rasant:

- Die Swisscom hat seit der Öffnung des Marktes (welche unsere Partei aktiv
anstrebte) unzählige und sehr starke Konkurrentinnen erhalten. Sie verliert
Marktanteile. Will sie ein starkes und auch sozial fortschrittliches
Unternehmen bleiben, muss sie ins Ausland gehen, dort Marktanteile,
Technologieknowhow und Erträge dazu gewinnen.

- Die Technologie der Telekommunikation entwickelt sich schneller als wir je
vorausgesehen haben. Die erforderlichen Investitionen übersteigen die
Möglichkeiten von kleineren und mittleren Gesellschaften.

- Genau so schnell und unvorhersehbar entwickelt sich der Markt. Die
deutsche Telekom hat allein für Ankäufe rund 150 Milliarden Franken zur
Verfügung. Das sind 150 000 Millionen - eine Summe, die unsere
Vorstellungskraft weit übersteigt.

Wir alle wollen die Interessen der Swisscom im freien Markt - es ist ein
internationaler! - bestmöglich wahren, wir wollen Wertschöpfung,
Arbeitsplätze und Know-how in der Schweiz behalten, wir wollen den Service
public schützen und entwickeln. Im Ziel sind wir uns einig. Als Weg dazu
muss die Swisscom wohl weitere Allianzen eingehen. Vielleicht muss der Bund
deshalb seine Aktienmehrheit aufgeben. Dies ist eine von vielen
Möglichkeiten. Ein anderer Weg ist, die Swisscom in eine Holdinggesellschaft
umzuwandeln und die Mehrheit nur bei einzelnen Tochtergesellschaften, z.B.
beim Mobilfunk, abzutreten.

Niemand kann heute sagen, welches in zwei oder drei Jahren der richtige
Entscheid sein wird. Klar aber ist, dass solche Geschäfte in wenigen Wochen
abgewickelt werden müssen. Daher unser Antrag auf Kompetenzübertragung an
den Bundesrat. Wer die geschäftliche Flexibilität für den Fall des Falles
heute verbaut, muss sich unter Umständen später vorwerfen lassen, am
finanziellen Niedergang der Swisscom, am Verlust von Tausenden von
Arbeitsplätzen mitverantwortlich zu sein und damit an der Verschleuderung
von Geldern, die der Allgemeinheit gehören.

Post

Welches ist bei der Post der richtige Weg? Auch hier laufen die gleichen
Entwicklungen wie im Telekommunikationsbereich, wenn auch nicht im gleichen
Tempo:

- E-mail und Internet bedrängen die Briefpost. Die Umsätze in diesem
Kernbereich der Post gehen zurück.

- Starke ausländische Unternehmen wie die Deutsche Post haben auch unseren
Markt entdeckt und picken unserer Post die Rosinen weg.

- Die EU diskutiert darüber, die Monopolgrenze auf 50 Gramm zu senken. Wir
sind heute bei 2 Kilogramm.

Die Post hat schon heute Mühe, den flächendeckenden Service public ohne
staatliche Subventionen zu gewährleisten. Subventionen für die Post wären
heute aber kaum mehrheitsfähig. Was sollen wir also tun? Den Service public
beschwören und zuschauen, wie die Post ins Trudeln gerät?

Wir haben uns auch hier für eine offensive Strategie entschieden: Die Post
soll neue Geschäftsfelder erschliessen und dadurch wirtschaftlich stärker
werden können. Stichworte dazu sind E-Commerce und Postbank, wie auch immer
diese im Detail ausgestaltet sein mag. Nur so wird die Post längerfristig in
der Lage sein, weiterhin einen guten, flächendeckenden Service public zu
bieten. Wie sonst soll das Poststellennetz, das immerhin zwei Milliarden
Franken jährlich kostet und von dem 500 Millionen nicht gedeckt sind bezahlt
werden? Mit höheren Posttarifen? Ich kenne auch die Protestbriefe gegen die
Anträge der Post. Durch eine Ausdünnung des Poststellennetzes? Ich kenne die
Proteste gegen solche Pläne. Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum
ausgerechnet aus unserer Mitte Widerstände gegen die Postbank kommen.

Warum die schweizerischen Banken, und all diejenigen, die sonst Markt und
Wettbewerb predigen, von diesem Wettbewerb, in dem sich auch ein staatliches
Unternehmen beteiligt, nichts wissen wollen, kann ich da schon besser
nachvollziehen.

Verantwortung als sozialdemokratisches Prinzip

Schauen wir auf unsere eigene Geschichte zurück. Wir sind selber das Kind
einer epochalen Veränderung. Unsere Geburtsstunde war das Zeitalter der
industriellen Revolution. Die Sozialdemokratie ist damals nicht angetreten,
um sich gegen die Industrialisierung zu wehren, sondern es ging ihr immer
darum, die Chancen dieser Entwicklung für alle zu mehren. Wir sind
angetreten, den technologischen Fortschritt für unser Ziele einer
solidarischen und gerechten Gesellschaft zu nutzen. Wir haben dafür mit
Initiativen, in den Parlamenten und Regierungen Verantwortung wahrgenommen.

In unseren Diskussionen um den Service public geht es deshalb auch um unser
sozialdemokratisches Selbstverständnis: Glauben wir weiterhin an die Chancen
von technologischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen? Und
wenn ja: Sind wir weiterhin bereit, Verantwortung zu übernehmen? Strategien,
Konzepte und Ideen zu entwickeln? Lösungen zu suchen, wie die rasante
Entwicklung zu steuern wäre? Oder begnügen wir uns damit, unsere
programmatische Reinheit zu wahren und empört auf die böse Realität zu
zeigen?

Beispiel SBB

Gewiss, es hätte weniger zu tun gegeben, die SBB als Anstalt zu belassen,
ihre wachsenden Defizite hinzunehmen, die schleichende Verlagerung des
Personen- und Güterverkehrs auf die Strasse zu beklagen, an der 28t-Limite,
die unser Verhältnis zu Europa zunehmend belastete, festzuhalten und das
Landverkehrsabkommen mit der EU, das uns eine schwierige Übergangszeit
beschert, abzulehnen.

Aber was wären die Folgen gewesen? Die SBB hätten immer mehr öffentliche
Gelder benötigt - ob sie sie erhalten hätten, bezweifle ich - und sie hätten
damit immer weniger Service public erbringen können.

Heute haben wir eine SBB, die Marktanteile gewinnt, wieder schwarze Zahlen
schreibt und die zusammen mit der Gewerkschaft die 39-Stunden-Woche
eingeführt hat. Wir haben eine LSVA, die die externen Kosten des
Schwerverkehrs internalisiert und den Bau der NEAT finanziert. Und wir haben
sieben Abkommen mit der EU, die uns einen ersten Schritt aus der
Europaisolation ermöglichen.

Beispiel atomare Abfälle

Gewiss, es gäbe für uns nach dem Nein des Schweizervolks zu den
Energievorlagen und dem KKW-Entscheid des Bundesrates weniger zu tun, uns
aus der Energiepolitik zu verabschieden, gegen die Strommarktöffnung das
Referendum zu ergreifen und die Lösung der Abfallproblematik so lange zu
blockieren, bis das letzte AKW abgestellt ist.

Aber wäre das auch verantwortungsvoll?

Ich finde: nein. Die KKW's laufen vielleicht länger, als wir alle es wollen.
Aber dieser Tatsache müssen wir in die Augen schauen. Es wäre doch
unsolidarisch, die Probleme mit den von unserer Generation produzierten
radioaktiven Abfällen einfach auf unsere Nachkommen abzuschieben. Das gilt
für Befürworter und Gegner der Atomenergie.

Beispiel Klimapolitik

Wir müssen doch weiterhin nach Wegen suchen, um unsere in Rio und Kyoto
eingegangenen Klimaverpflichtungen einzulösen und mit dem CO2-Gesetz erste
Schritte in Richtung einer ökologischen Besteuerung unternehmen. Wir müssen
doch Leitplanken für eine geordnete Öffnung des Strommarktes erlassen. Die
Liberalisierung ist ja bereits im vollen Gang, und wir brauchen dazu
dringend Regeln - gerade um den Service public zu garantieren.

Das politische Paket Kohäsionsfonds - Postbank - Swisscomflexibilisierung

Gewiss, es gäbe weniger zu tun, für die Post staatliche Subventionen zu
fordern, bei der Swisscom unwiderruflich die Nein-Parole zu möglichen
Allianzen zu beschliessen.

Aber was wären die Folgen?

Wir würden im Parlament jeden Einfluss auf die Ausgestaltung des
Swisscom-/Post-Pakets verlieren, zu dem ja übrigens auch ein vom Bundesrat
bereits bewilligter Kredit von 80 Millionen für Wirtschaftsförderung in
Randregionen gehört. Ihr wisst, was das heisst: Keine Postbank, dafür eine
voll privatisierte Swisscom. Das ist nicht verantwortbar. Denken wir zurück
an die bilateralen Abkommen mit der EU: Hätten wir damals einfach ,Nein
 gesagt, hätte sich das Parlament nie eingelassen auf wirksame flankierende
Massnahmen im Personen- und im Landverkehr. Eine dieser wesentlichen
Verbesserungen ist an unserem letzten Parteitag entstanden: Ich habe damals
die Idee eines Kohäsionsfonds für die von der Liberalisierung besonders
betroffenen Regionen eingebracht. Später gab es von unserer Seite
parlamentarische Vorstösse mit dem gleichen Ziel. Der Fonds in
formalrechtlichem Sinne ist zwar nicht durchgekommen, doch die Idee, die
dahinter steckt, hat sich durchgesetzt.

Der Service public soll unser Werk bleiben

Solche Prozesse verunmöglichen wir, wenn wir einfach ,Nein' sagen. Der
Service public, wie er heute besteht, wurde von uns geschaffen. Um ihn zu
erhalten, dürfen wir vor dem rasanten internationalen, technologischen und
gesellschaftlichen Wandel nicht die Augen verschliessen. Wir müssen
mitarbeiten. Wir müssen ihn mitgestalten. Und wenn ich sage wir, meine ich
wir:

Die Sozialdemokratie definiert sich nicht nach der Arbeit ihrer
Vertreterinnen und Vertreter in der Regierung. Diese ist nur ein Teil der
SP. Der wichtigere Teil besteht in der Arbeit an der Basis, in der
Wachsamkeit, dass das Grundziel nicht aus den Augen verloren geht, in der
Korrektur der Exekutivarbeit. Daraus entstehen gelegentlich Diskussionen,
hoffentlich auch!

Wir haben diesen dialektischen Prozess bis heute immer zu unserem Vorteil
nutzen können. Zum Beispiel in der Verkehrspolitik, die wir in unserem Sinn
umgestaltet haben. Wir können das auch bei der Swisscom. Führen wir eine
Golden Share ein? Eine Sperrminorität? Müssen einzelne Bereiche, wie das
Festnetz, im Volksbesitz bleiben? Ich bitte Euch, an diesen Fragen
mitzuarbeiten, nicht einfach Nein zu sagen, sondern mitzugestalten, ich
bitte Euch, das Steuer nicht anderen zu überlassen. Die Weiterentwicklung
des Service public ist unsere gemeinsame, noch lange nicht beendete Aufgabe.

Der Service public - die flächendeckende Grundversorgung für alle - ist
unser Werk. Es muss doch auch unser Werk sein, ihn den Veränderungen
anzupassen, damit er erhalten bleibt. Es muss doch auch unser Werk sein, ihn
zu reformieren. Denn eines ist gewiss: Der Service public ist viel zu
wichtig, als dass wir ihn dem Vorort überlassen dürften.